Letters home 1967 -1978

Wednesday, February 13, 2008

Christmas letter '67

Kathmandu, 18.12.1967

 

Liebe Mutter, liebe Helga, lieber Bruder!

Das soll also ein Weihnachtsbrief werden.

Dazu ist für mich eine gewaltige Vorstellungsakrobatik, ein Sprung über Tausende von Kilometern, ein Wech­sel meiner Gedanken nötig, und ich zweifle gleich hier, dass das gelingen wird. Ich muss auch einen Zeitsprung machen, um die 6 Tage und den trä­gen Transport des Briefes bis zu Euch am Heiligabend auszugleichen. So gesehen ist es für mich jetzt Heiligabend, wo ich zu Euch mein Gedanken­kabel lege. Einen Anruf aus Indien, von wo es gar nicht mal so teuer ist, habe ich aus verschiedenen Gründen verworfen. Die Aufregung, nach so lan­ger Zeit plötzlich wieder die Stimmen zu hören, würde in diesen drei Minuten von niemandem richtig verkraftet, und es würde Traurigkeit bringen, wo es Freude geben sollte. Ausserdem könnte die schlechte Verbindung zu viel Är­ger bringen, und so schreibe ich lieber, als „ein schönes Fest“ zu brüllen.

Ich habe genau Euer Bild vor Augen. Der Weihnachtsbaum steht in der Ecke, diesmal von Harald geschmückt, und Mutti findet ihn richtig schööön, hat aber am Vormittag beim Schmücken zweifellos einige vergleichend kriti­sche Blicke geworfen, die wiederum mein beim Lametta-Hängen etwas zu verkrampftes Brüderchen unwillig im Nacken spürte. Aber am Schluss mei­nen doch alle: Es ist wieder ein schööööner Baum. Da sitzt Ihr nun, viel­leicht nach Beschenkung (oder etwa nach Kartoffelsalat und Würstchen?), und Mutti sagt: „Lasst uns doch noch mal den Brief von Hansel lesen“. Mutti ist natürlich etwas traurig, dass IHR Langer nicht da ist, hat beim Sprechen manchmal einen Kloss im Hals, und jetzt beim Lesen fliessen natürlich Tränen, obwohl sie sich vorgenommen hat, richtig tapfer zu sein. Und seht Ihr, gerade so will ich es nicht!!! Daher habe ich schon wieder eine Abneigung gegen einen Weihnachtsbrief und be­zweifle wieder, dass es einer wird. (Mutti wird jetzt sagen: "Nun ist er wieder richtig fiiies!) 

Aber ist doch wahr, so wird es wohl sein, und ich kann nichts dagegen machen. Es wäre also für mich eine frohe Botschaft, wenn ich mich irren sollte und ich arbeite mit diesem Brief gleich in diese Richtung: Um sich eine Gegebenheit schöner zu machen, hilft man sich manchmal damit, indem man sich Schlimmeres vorstellt. Das sähe dann bei mir folgendermas­sen aus: Stell Dir vor, er wäre hier zum Säufer geworden; stell Dir vor, er wäre von Schneemenschen gefressen worden; stell Dir vor, er wäre im Weih­nachtsmanöver gewesen; stell Dir vor, er hätte in München eine gute Ar­beits­stelle und könnte nicht kommen, da seine Frau ein Kind erwartet; stell Dir vor, er wäre ein Amerikaner auf Asienreise; stell Dir vor, er wäre Mess­diener und zur Mitternachtsmesse nach Neukirchen-Vlyn gefahren; stell Dir vor, er wäre jetzt nicht schon längst in wärmeren Gefilden, sondern sässe noch in einem kleinen, dreckigen Hotelzimmerchen in Katmandu (da fällt mir ein, ich muss hier mal wieder Staubwischen lassen...) vor einem wacke­ligen Tisch und würde immer noch am Weihnachtsbrief herumschustern, usw. usw. – Mir fällt noch was ein: Stell Dir vor, er wäre gar nicht weggefah­ren. – Aha, seht Ihr, sooo schlimm ist es ja gar nicht.

Übermorgen werdet Ihr alle nach Benrath fahren, und sogar Mutti sitzt mit in Haralds schööönem Wagen. Dort in der Runde wird vieles erzählt, es ist wieder so gemütlich wie jedes Jahr, und wenn Onkel Rudi vom Frühschop­pen zurück ist, werdet Ihr vielleicht meinen letzten Brief vorlesen. (Die Vor­stellung an einen so grossen Zuhörerkreis irritiert mich, und ich habe es, weiss Gott, schon jetzt nicht leicht mit diesem Weihnachtsbrief) ! Doch, wer weiss, vielleicht wird diesmal doch alles anders sein und meine Vorstellungsakrobatik hinkt gewaltig. 

Es wundert mich selbst, dass ich diesmal eigentlich recht wenig Neues von hier berichten kann. Ich habe in der Zwischenzeit 750 Weihnachtskarten verkauft, habe weiter Tempel Bilder mit blauem Hintergrund geliefert und werde morgen meine non-stop-Reise nach Ceylon starten. So habe ich also 4 Wochen um­sonst hier gelebt und zusätzlich meine Reisekasse etwas aufgefüllt, was mir gut weiterhelfen wird. Südindien wird herrlich sein, ich höre schon das Meer und die Pal­men rauschen.

Bis dahin aber sind alle meine Gedanken bei Euch. Ich feiere das Fest von hier aus mit Euch und wünsche, dass es ein wirklich schönes Weihnachten wird.

Ich umarme Euch alle und wünsche Euch alles Liebe und Schöne,

Euer Hans

 PS. . Seid mir nicht böse, wenn es kein richtiger Weihnachtsbrief wurde.

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