Letters home 1967 -1978

Wednesday, February 13, 2008

From India to Malaysia '68

 

 

Madras, 27. 12. 67

 

Liebe Mutter!

Nach einem gewaltigen Sprung sitze ich also nun schwitzend hier in Madras. Seit zwei Tagen. 

Das Wetter ist so, wie man es sich für den „Tag der deut­schen Einheit“ immer wünscht. Eigentlich sollte das hier nur ein kurzer Stopp werden auf meinem Weg nach Ceylon, doch …erstens kommt es an­ders und …. Es zeigt sich wieder mal, dass man hier in Asien keine Planung über mehrere Etappen machen kann. Zwischen Indien und Ceylon toben seit Tagen einige Taifune herum (auf dem Meer natürlich), und der Schiffsver­kehr ist für einen Monat eingestellt worden. Die Flugzeuge fliegen sowieso nur zweimal in der Woche und sind bis Mitte Januar ausgebucht. Selbst wenn ich mir den teuren Spass eines Fluges leisten würde, könnte ich also nicht vor Ende Januar in Ceylon sein. Also, wieder muss ich ummodeln. Dann hat sich hier wieder etwas Neues herausgestellt. In Kalkutta gab es zu­erst Schwierigkeiten mit meinem geplanten Flug nach Bangkok. Da das Inter­nationale Touristenjahr 1967 zu Ende ist, wird man wieder unfreund­lich und will mir keine Studentenermässigung geben. Studentenermässigung gibt es nur noch für Studenten, die in Thailand oder Indien studieren. Dieser Flug würde mich dann 320,- DM kosten, also zu teuer. Glücklicherweise aber konnte ich hier in Madras wieder erfahren, dass es doch eine Deckpas­sage durch den Golf von Bengalen gibt. Überall in den Informationsstellen Indiens wurde gesagt, keine Deckpassage für Europäer. Meinen Plan musste ich also schnell ändern und festlegen.

 Ich fahre nun nicht nach Ceylon. Von hier aus starte ich übermorgen eine Rundreise durch Südindien. Auf der Karte sieht das so aus: Madras, Banga­lore, Mysore, die Küste von Kerala bis nach dem letzten Zipfel Indiens, Cape Comorin, dann nach Madurai, Ponticherry und zurück nach Madras. Am 30. Januar verlasse ich Indien, fahre 6 Tage lang mit dem Schiff durch den Golf von Bengalen bis nach Penang, einer kleinen Insel vor der Küste von Malaya. Von dort wieder nach Norden, nach Bangkok in Thailand. Dann werde ich mir Thailand richtig besehen, um mich von dort auf den Weg nach Austra­lien zu machen. (Das Arbeitsvisum bekomme ich leicht in Kuala Lumpur oder in Bangkok, wie ich jetzt weiss). Doch bis dahin wirst Du noch oft von mir hören. Meine Instruktionen für Dich sind also jetzt neu und wichtig für Dich:

Schreibe mir einen ausführlichen Brief nach

Madurai/South India

G.P.O./poste restante

Aus diesem Brief möchte ich gerne erfahren, wie Ihr das Weihnachtsfest ver­bracht habt und Neujahr, was mit meinem kleinen Zeitungsbericht an die Westdeutsche Zeitung vor Weihnachten geworden ist und wieviel Geld ich durch Eure liebe Weihnachtskollekte und durch den Karten- und evtl. Druck­e-Verkauf auf dem Konto „Kennwort Asienhilfe“ habe.

Wichtig wäre für mich noch zu wissen, wo Peter und sein Kumpel Dietrich Schröder im Augenblick sind und wie seine Zeitpläne aussehen. Es wäre schön, ihn irgendwo zu treffen, bevor er zurückfährt. 

Auf dem Weg nach hier traf ich einige Bekannte, die mich lange nicht gese­hen hatten. "Mensch, bist du fett geworden!“ hiess es überall, was auch Dir zeigen wird, wie gut mir mein kapitalistischer Monat in Katmandu getan hat. Ich hab es mir aber auch gut gehen lassen und habe viele Reserven für meine Tour durch Südindien.

Meinen Heiligabend verbrachte ich auf meiner Luftmatratze auf der Gepäck­ablage im Zug 3. Klasse von Kalkutta nach Madras. Sehr gemütlich war es und mal was ganz anderes. Ich bin sehr glücklich, wieder auf Achse zu sein und freue mich auf die kommenden Tage in Südindien. Dass ich nicht nach Ceylon komme, ist zwar bedauerlich, doch nicht umwerfend. Ich werde ja überall hier und in Zukunft reichlich entschädigt, und alles kann ich ja nun nicht sehen, sonst komme ich nie weiter. Von Katmandu bis hier ist wirklich ein grosser Wechsel, nicht nur klimatisch. Ich habe hier ein kleines Hotel be­zogen, gehe an einem der schönsten Strände der Welt, der für seinen weis­sen Sand bekannt ist, spazieren, esse die indischen Gerichte, Reis und aller­lei Curry-Gerichte auf grossen Bananenblättern serviert, mit den Händen ge­mischt und auch mit Händen gegessen, zwar eine Umstellung, aber köstlich. Für 1,50 Rupies wird so lange aufgetragen, bis man schier platzt.

Gestern Abend war ich seit Monaten mal wieder im Kino, habe mir den „Laurence von Arabien“ zum zweiten Mal zu Gemüte geführt und wieder die Wüste gesehen. Leider haben die Jungs im Projektorraum die Filmrollen vertauscht aber keiner der Zuschauer hats bemerkt.

So, das waren die Neuigkeiten für heute.

Ich wünsche Dir und Euch einen guten Rutsch ins Neue Jahr, von dem ich hoffe, dass es Dir nur Gutes und Schönes bringen möge.

Hans

 PS. Was sagst Du zu meiner fleissigen Rundschreibeaktion an alle Familienzwei­ge? Ich bin selber stolz auf diese Leistung.


Aleppy/Kerala         9. 1. 1968

 Liebe Mutter,

 Das ist also mein erster Brief in diesem Jahr an Dich. Es ist schon wieder reichlich spät, der letzte war aus Madras, wo ich meine Pläne ändern muss­te, vor schon wieder 14 Tagen. 

Ich bin jetzt an der Westküste Südindiens, eine der schönsten Landschaften hier. Von Madras nahm ich den Zug, der wirklich sehr billig ist und fuhr über Bangalore nach Mysore. Hier in der Gegend besuchte ich einige Tem­pel­städte und fuhr weiter nach Süden, durch die Dschungel-Landschaft der so genannten West-Ghats, einem Gebirgszug, der sich der Küste entlang zieht. Dann bin ich in Cochin gelandet, einer alten Hafenstadt, die von den Holländern und Portugiesen schon vor einigen Hundert Jahren besiedelt wurde. Wieder ein neuer Staat, eine neue Sprache und Schrift im babyloni­schen Sprachgewirr Indiens. Hier sind die so genannten back-waters, un­end­­lich verzweigte Wasserkanäle, Inseln und Lagunen, die Verkehrswege in diesem Gebiet.

 Zwischen den dichten Palmeninseln fuhr ich mit einem klei­nen Boot nach Aleppy, einer kleinen Stadt, wo ich nun in einem alten eng­lischen Palast wohne, zwei Minuten vom Strand entfernt. Seit einigen Tagen bin ich mit einem deutschen Kaufmann zusammen, der zwei Jahre in Süd­afrika gearbeitet hat und sich nun auf einer Weltreise mit dem Ziel Heimat befindet. Hier werde ich mich bestimmt einige Tage lang aufhalten, so gut gefällt es mir hier. Heute Morgen war ich schon um 6 Uhr im Wasser des Ara­bischen Meeres, habe dann eine Stunde lang den schwarzbraunen Gesel­len am Strand zugesehen, wie sie mit ihren eleganten Booten ihre Netze aus­­legen und dann wieder an Land ziehen. Es ist jetzt 12 Uhr mittags, und ich bin hier unter den Ventilator meines Zimmers der Hitze entflohen. Es ist wohl 30 – 35 Grad im Schatten, richtige Wintertemperatur also. 

Sei herzlich gegrüsst für heute von Deinem augenblicklich sehr schreibfaul gewordenen

 Hans

Letzter Absendetermin für Briefe nach Madras ist der 24. Januar.

 

 

Madurai, 17. 1. 68

 Liebe Mutter!

 Ich habe mich sehr gefreut, nach fast vierwöchiger Pause wieder einen Brief von Dir zu haben. Dass mein Weihnachtsbrief so pünktlich bei Euch am Heiligabend ankam und dass er mich so doch ein wenig mitfeiern liess, hat mich sehr gefreut. 

Dass meine Drucke so gut verkauft worden sind, ist Klasse und beruhigt für die Weiterreise. Am meisten natürlich habe ich mich über Euer dickes Weih­nachtsgeschenk gefreut. Ich weiss zwar nicht, wie sich die 250 DM aufteilen, doch lass mich Dir und meinen Geschwistern und nicht zu vergessen, Tante Gertrud, ganz herzlich dafür danken. Ich würde doch zu gerne ge­nauer erfahren, wie die Stimmung mir gegenüber ist. Vor allem möchte ich wissen, ob mich nicht alle meine Onkels als Faulenzer und Taugenichts verurteilen. Na, und wenn schon, die werden sich sicher eines Tages noch ge­waltig wundern müssen. Wenn sie nicht verstehen, was ich mache, dann bekommen sie auch nichts von meiner ersten Million ab.

In der Zwischenzeit habe ich wieder einiges gesehen und erlebt. In Aleppy in Kerala, von wo ich zuletzt schrieb, bin ich noch einige Tage geblieben. Der Deutsche, der dort eine Fabrik aufbaut und recht einsam zwischen den In­dern lebt, hat mich einfach nicht gehen lassen wollen. Ich verbrachte die Tage mit viel Faulenzen, erzählen, schwimmen, lesen und mit viel spendier­tem Bier.  Das waren also die Ersatztage für das versäumte Ceylon. Die Gegend dort ist einfach para­diesisch. Ich habe selten so einen schönen Strand, Palmen und Fischerdör­fer gesehen. Dann bin ich am 15. weiter und sitze jetzt in Madurai, der gröss­ten Tempelstadt in Indien. Durch Zufall traf ich hier meinen Bürgen für Australien wieder, mit dem ich nun die verschiedensten Tempel hier abklap­­pere. Ich bin recht traurig, dass ich meinen guten Freund Colin nicht mehr getroffen habe. Ich habe von anderen erfahren, dass er doch noch mit aller Gewalt nach Ceylon übersetzen wollte, weiss jedoch nicht, ob es gelungen ist. 

Langsam aber sicher stelle ich mich nun auf meinen nächsten Reiseab­schnitt nach Indien ein: Indochina. Du erinnerst Dich bestimmt der vielen interessanten Berichte von Hans Walter Berg im Fernsehen, der, so glaube ich, jetzt von Peter Scholl-Latour abgelöst wurde. Diesen Peter Scholl-Latour habe ich übri­gens durch einen Zufall in Kathmandu  kennen ge­lernt. Wenn also in Zukunft von „Auslandskorrespondenten berichten“ eini­ges über Malaya, Indonesien, Thailand im Fernsehen kommt, so pass gut auf, da ich vielleicht dort durch das Bild laufe. Indien ist zwar schön, doch die Inder selber machen einem das Leben recht sauer. Ich bin sehr auf den Wechsel gespannt. Du sicherlich auch.

Sei umarmt und gedrückt und geküsst

 von Deinem Söhnchen Hans

 

 

Madras, 22. 1. 68

 Liebe Mutter!

Die ganze Nacht war ich im Zug von Tanjore in Südindien nach hier in Madras. Bei einer Affenhitze bin ich dann schleu­nigst zur Post getigert, wo ich Deinen lieben Brief vorfand. Jetzt bin ich lei­der stinksauer, dass ich sonst nichts bekommen habe. Ich war auf einen Stapel Post gespannt und wäre dem un­schuldigen Beamten beinahe ins Gesicht gesprungen, als er mir nur einen Brief übergeben konnte. Man ist einfach machtlos. So habe ich mich also damit abgefunden, dass Dein Weihnachtsbrief nach Katmandu und auch ein Brief von Dir nach Kalkutta (der mit den Zeitungs­ausschnitten) verloren gegangen sind. 

So, und nun bin ich also bis zu meiner Abreise mit dem Schiff nach Malaya hier in Madras und werde von hier aus in den nächsten Tagen noch einige Abstecher zu einigen Tempeln und Sehenswürdigkeiten machen. Damit ist dann das grosse Kapitel Indien in meinem Reisetagebuch beendet, und es gibt einen grossen Wechsel, dem ich jetzt schon mit viel Spannung entgegen­sehe.

Ich habe mich nach dem Weg zur Post, vor der Mittagshitze in das Bahnhofsre­staurant, unter die ewig kreisenden Ventilatoren zurück geflüchtet. Heute Nachmittag werde ich mir ein kleines Zimmerchen in einem der vielen Hotels mieten, wo ich dann viel Ruhe für mich habe. Die Zeit bis zur Abreise werde ich dann mit Lesen und Schreiben verbringen. Du bekommst also gleich in den nächsten Tagen einen ausführlichen Brief, der Dir mehr als diese Aero­gramme von mir berichten wird.

Sei also bitte für heute wieder mit diesen paar Zeilen zufrieden. Ein langer Brief wird folgen. Dazu brauche ich etwas mehr Ruhe.

Viele liebe Grüsse und Küsse von

Deinem Hans

PS. Ich freue mich wirklich über den Erfolg meiner vorweihnachtlichen kapi­talistischen Unternehmungen!!

 

 Madras, 24. 1. 68

 

Lieber Volker!

 Bevor ich mich hier in Indien verziehe, um mit dem Schiff nach Malaya über­zusetzen, will ich schnell Deinen lieben Brief beantworten, der mich noch kurz vor meiner Abreise von Katmandu erreichte. Das ist jetzt auch schon wieder einen Monat her, und ich bin in der Zwischenzeit hier in Süd-Indien einiges herum gekurvt.

 Zuerst also vielen Dank für Deine freundschaftlichen Zeilen, die mir einen willkommenen Schubs in Richtung Weiterreisen nach Australien gaben. Auch für Dich wird sich jetzt bald die gleiche Frage stel­len, was tun nach dem Abschluss? Du sitzt jetzt sicherlich schon längst mitten drin, und ich kann gut nachfühlen, wie es jetzt so bei Euch allen zugeht. Ich halte Dir beide Daumen für eine gute Abschlussnote. Leider weiss ich gar nicht so richtig, wie Du Dich so in der Schule entwickelt hast, und ich war wirklich sehr erfreut, von Dir zu hören, dass Du im vorigen Semester als einziger mit einer 2 gesegnet warst. 

Was macht die Superfrau Monika und Supermann Christof? Grüss mal schön! Ich hätte auch den Beiden schon längst mal schreiben können oder sollen. Es ist auch noch zu bemerken, dass ich Dir für Deine Hilfe bei meinem Weihnachtsgeschäft herz­lich danken will und auch sonst für Deine Hilfe bei Muttern. 

Also, was machst Du???? (In der Frage und aus der Situation, aus der ich sie stelle, liegt natürlich schon ein Beeinflussungsversuch meinerseits, den ich jetzt gern hören will: Jawohl, nach meinem glorreichen Abschluss werde ich es genau wie Du machen, und wir werden dann in Australien zusammen Millionäre werden!) Aber lass Dir eins sagen, Volker. Du bist Du, und ich bin ich – welch tiefgreifende Erkenntnis!!! – und was für mich gilt, braucht noch lange nicht für Dich zu gelten. Also überleg es Dir reiflich, und entscheide Dich dann gefälligst für eine Reise nach Australien. Aber ich will Dich da in keinster Weise auch nur im geringsten beeinflussen.

Von mir hier gibt es zwar viel, meiner augenblicklichen Faulheits-Periode wegen aber noch wenig zu berichten. Indien ist eben ein gewaltiges, unsagbares, schö­nes Scheissland, und ich brauche Abstand und einen Wechsel. 

Grüsse alle von mir

Dein Hans

 

Madras, 30. 1. 68

 Liebe Mutter!

 Ich gehe in 10 Minuten auf unser Schiff nach Malaya. Ich verbrachte die letzten Tage hier in Madras, doch nicht so faul, wie ich mir vorgenommen hatte, so dass ein längerer Brief doch noch etwas auf sich warten lässt. 

Zum ersten Mal seit langer Zeit habe ich jetzt etwas Reisefieber. 6 Tage auf einem indischen Schiff, in der billigsten Deck-Klasse, das wird wieder einen Spass geben. Das also in Eile und kurz, der Zoll und die anderen leidlichen Formalitäten warten schon, und ab 4 Uhr werde ich mich auf den leichten Wellen des blauen Meeres weiter bewegen, immer näher meinem Ziel Austra­lien.

Viele liebe Grüsse und viele Küsse

von Deinem Sohn Hans

 

 

Penang, 5. 2. 68

 Ein toller Wechsel! 

Nach entspannender Überfahrt bin ich mitten drin in Südost-Asien. Chinesische Schriftzeichen, saubere Strassen, hüftwackeln­de schlitzäugige Schönheiten. Ich bin vor wenigen Stunden hier angekommen und restlos glücklich!

Zur Feier des Tages habe ich mir gerade ein chinesisches Mahl zugute ge­führt. Bei brennend heisser Sonne und strahlendem Himmel geniesse ich das schöne Leben.

 Viele Grüsse, Hans

 

Malaya, Penang, 8. 2. 68

 Liebe Mutter,

Vor der Teer aufweichenden Bombensonne um die Mittagsstunde habe ich mich wieder einmal unter einen Ventilator hier in der Jugendherberge von George-Town in Penang zurückgezogen und will jetzt einmal wieder für Dich diesen neuen Schreibblock mit einem eben gekauften Kugelschreiber, Made in Germany, bekritzeln.

Den letzten Monat in Indien und die Überfahrt nach Südost-Asien will ich Dir heute ein wenig besser beschreiben, und wenn Du das alles gelesen ha­ben wirst, so hast Du sicherlich mehr Verständnis dafür, dass es in der letzten Zeit nie zu einem richtigen Brief gereicht hat.

Also erst zurück nach Indien.- 

Eins ist sicher, wir in Deutschland, in unse­rer geordneten und sauberen Umwelt, machen uns keinen Begriff von der dortigen Wirklichkeit. Ich habe nun alle indischen Staaten gesehen und kann mir ein kleines Bild davon machen. 500 Millionen Menschen, das allein ist eines und vielleicht das grösste Problem, das keiner der dort Reisenden übersehen, dem keiner entfliehen kann, so sehr er sich auch bemüht. Über­all, auf dem Land, in den Dörfern und vor allem in den Städten, Menschen, Menschen, Menschen. Die Strassen ständig überfüllt: Vorweihnachtseinkauf auf der Hochstrasse, Kaufhof bei der Eröffnung des Sommerschluss-Ver­kaufs. Dieses Gedränge, ständig und immer. Und hier haben wir gleich das grösste Problem, die grosse verdrängte Angst, die Zukunft, die man einfach ignoriert. 

Schon in wenigen Jahren muss die Versorgung zusammenbrechen, nur ein Wunder kann helfen, und dieses Wunder wird es nicht geben. Der Versuch der Familienplanung, für die überall verzweifelt geworben wird, geht absolut daneben, schon ist es eine Minute nach 12, versagt an der Unfähig­keit jeder Organisation, an der Lethargie der Menschen. Das, was seit vielen hundert Jahren existiert, das religiös bedingte Ausgeliefertsein jedem Schick­sal gegenüber, lässt sich nicht mehr in der erforderlichen Zeit ändern. Und Indien ist sehr religiös. Ob ich einem Bettler gebe oder nicht, es ist für ihn dasselbe, ein Danke gibt es nicht, das Schicksal, die Götter, die Fügung gibt, oder nicht, ich bin nur das benutzte Mittel. Dies ist für uns nicht nach­fühlbar, wir können es nur erstaunt oder entsetzt registrieren. Meine grosse Traurigkeit.

Übermüdet durch langes Warten auf den Zug, der nach 6-stün­diger Ver­spä­ung eintrifft, gereizt durch den Kampf um einen Platz in den überfüllten Ab­teilen, hänge ich mehr, als ich stehe, mitten in der Nacht zwi­schen den in allen Stellungen schlafenden Menschen. Erst nach Stunden, nachdem sich der Bummelzug langsam von Station zu Station leer tropft, kann ich einen Sitzplatz bekommen. Ich bin in Südindien. Der letzte Venti­lator, der noch nicht defekt ist und sich in einem schwarzen Drahtkäfig dreht, schafft nichts, dreht sich sinnlos. Die Luft ist schwer und feucht. Einige Stationen weiter. Der Gang wird leer. Mein Blick fällt auf ein Bündel, das in einer Ecke sitzt. Es ist ein Menschlein, auf seinen Hacken sitzend, die Hände stützen das Gesicht, zusammengekauert, wie ich es noch nie gesehen habe. Er schläft. Der Schaffner hat eine Uniform, die ihn mächtig macht, und er hat einen Europäer im Wagen, einen Sahib, und er ist glücklich, kann gewichtig meine Fahrkarte kontrollieren, kann sich spiegeln. Das Bündel in der Ecke wackelt hin und her. Die Schienen sind ausgeleiert, und eine Federung hat der veraltete Dritter-Klasse-Wagen noch nie gesehen. Der Schaffner brüllt grob, rüttelt das Bündel an den Schultern. Der blinde Bettler zuckt zusam­men, seine knochigen Hände suchen auf dem dreckigen Boden nach etwas, hat seinen Stecken gefunden, richtet sich langsam auf. Das entstellte Ge­sicht ist ohne Ausdruck, seine Gestalt nur Haut und Knochen. Er weiss nicht, ob Tag oder Nacht, kennt nicht den Namen der kleinen Station, an der der Zug gerade fürchterlich quietschend und rumpelnd hält. Der Uniform­träger packt die knochigen Schultern und schubst den Blinden hinaus. (Gestern hast Du mir von Helgas neuer Wohnung erzählt, von Heris Exa­men.) 

Als der Zug wieder anruckt, sich in Bewegung setzt, starre ich in die traurige Nacht. Die Kruste, die bis jetzt gehalten hat, ist beim Teufel, ich heule wie ein Schlosshund. Die vorgehaltene Hand schützt mich vor dem Schaffner. 

– Ich drängle mich wieder durch das Menschengetümmel am Bahnhof, blinzle in die helle Morgensonne. Rikscha, Sahib! Rikscha, Sahib! Ich überquere die Strasse, ignoriere die Bettler auf dem Gehweg, feilsche um den Zimmerpreis des kleinen Hotels. Im Zimmerchen atme ich auf. Gott sei Dank, die Kruste ist wieder in Takt! Ich gehe wieder hinunter, kaufe mir eine Zeitung. Man streitet sich um die Sprache. Nordindien will Englisch als Hauptsprache abschaffen, möchte nur noch Hindi. Schwere Ausschrei­tun­gen in Calcutta. Randalierende Studenten und Mob demonstrieren gegen Englisch. Im Süden hier will man Englisch und Tamil. „Hindi down“, „India or Hindia?“, die Häuserwände sind mit Anti-Hindi-Sprüchen beschmiert. In Bangalore demonstrieren randalierende Studenten und Mob gegen Hindi und pro Englisch. „Dr. Blaiberg auf dem Weg zur Genesung!“ „Hügel 821 erfolgreich gegen Vietkong verteidigt! Dann kann ich wieder lachen!

 Anzeige von dpa: Konstanz : Die Bürger der Bundesrepublik sind mit dem Jahr 1967 nicht so zufrieden, wie sie es Ende des vorigen Jahres mit 1966 waren. Das ermittelten die Allensbacher Demoskopen. Auf die Frage „War 1967 für Sie alles in allem ein gutes Jahr?“ antworteten 21 Prozent mit einem glatten Nein (1966 waren es 19 Prozent gewesen). Für „gut“ entschieden sich 45 (52) von je 100 Befrag­ten, für „mittelmässig“ 33 (28). Ein Prozent wusste keine Antwort zu geben.

Die Kruste ist wieder intakt!!!!

 Auf dem Schiff nach hier, habe ich es endlich fertig gebracht, meiner Schwe­ster zu schreiben. Mit lautem Gepolter ist mir danach ein Stein vom Herzen gefallen, nicht nur wegen des schlechten Gewissens, sondern auch, dass ich endlich wieder einen einigermassen ausführlichen Brief zusammen bekom­men habe. Ich habe ihr dort einiges über Indien erzählt, das ich auch Dir geschrieben hätte. Ich will annehmen, dass Du diesen Brief auch bald zu le­sen bekommst. So will ich jetzt nicht zuviel Doppeltes erzählen. Also ist das hier mehr eine kleine Nachlese. 

- Madras ist zwar eine recht grosse Stadt, die sich bemüht, modern zu werden. So gab es also eine grosse internationale Industrie-Messe, die ich mir mal anschaute. Man will ja so gerne die mächti­ge Nation im Süden demonstrieren, man will international sein. Am 22. Ja­nuar also wurde die erste Messe auf dem dafür geeigneten Platz ausserhalb der Stadt eröffnet. Einige Tage danach fuhr ich also hinaus mit dem Bus. Neben den Slumhüt­ten am Rande des Ausstellungsgebietes die bombasti­schen Pavillons! Doch die Inder strömten, wie immer in ewig langen Schlan­gen, bunt und dicht. Doch nach einigen Stunden nutzlosen Herumlaufens musste ich feststellen, dass keiner der wohl 100 indischen Ausstellungs­stände fertig war. Es wurde noch überall gehämmert und gezimmert. Der sowjetische Pavillon war protzig. Ich schlenderte hindurch, sah mir einiges an und sprach mit einem jungen Russen. Der war stinksauer. Sie hatten sich einige Kisten Wodka mitgebracht, die vom indischen Zoll beschlag­nahmt wurden. Sie sollten ihren eigenen Wodka verzollen (100 %) 

Eine wohl hundert Meter lange Menschenmenge drängte sich zum Eingang des ost­deutschen Pavillons. Die ostdeutsche Wochenschau kurbelte fleissig. Ich war sehr über das Interesse der Leute erstaunt, wusste ich doch durch eigene Unterhaltungen, dass den wenigsten Indern etwas über unsere politische Gegenwart bekannt war. Ich untersuchte die Sache näher und fand heraus, dass es dort eine Plastik-Tragetasche umsonst gab, um die man sich dräng­te, eine von der Sorte, die von 12 bis Mittag hält. Ich hätte gern den Kom­mentar zur Wochenschau gehört. Der Mann hinterm Stand war reichlich verklemmt mir gegenüber. Ihm war in seinem Nylonhemd reichlich warm, und die dunkle Krawatte war leicht verrutscht. Nichtssagendes Geschwätz.

„Es ist jetzt kühl daheim! Haben Sie schon Ihren Ausstellungsstand gesehen?“ Dort gab es zwar keine Plastiktüten, dafür ein schönes Wasser­spiel, das sich sooo schön zu der Walzermusik aus dem Lautsprecher be­wegte. Ein etwas schwabbeliger Herr: „Aha, ist ja interessant! Wind um die Ohren wehen lassen… Welt ansehen?“

Alles in allem war das wohl die lustigste und unmöglichste Ausstellung, die ich jemals gesehen habe.

Der Strand von Madras ist wohl einer der längsten und schönsten, so steht’s im Prospekt. Leider jedoch kann es auch die organisierte Touristen-Organi­sation nicht verhindern, dass die lieben Inder gerne im Freien kacken. Und derer sind, wie überall, viele.

Im Süden ist das Dorf der Fischer. Sie haben eigenartige Boote, die sie abends auseinander nehmen, stückweise nach Hause tragen und am näch­sten Morgen wieder zusammenbinden. Hier scheint die Zeit absolut stehen geblieben. Nur mit einem Turban und mit einem knappen Lätzchen beklei­det kämpfen die nackten, schwarzen Gestalten mit der Brandung, die flachen Boote tanzen beängstigend in den Wellen, bis sie die Brandung hinter sich haben und aufs Meer hinaus paddeln. In geflochtenen Körben bringen sie ihren spärlichen Fang an Land, der dort den Frauen übergeben wird, die ihn an Ort und Stelle sortieren, zählen und versteigern. Das geht mit viel Ge­schrei vor sich. Die schwarzen grossen Krähen hüpfen frech um die feil­schende Weibergruppe, ergattern hier und da einen kleinen Fisch, den sie sogleich gegen ihre hungrigen Artgenossen verteidigen müssen.

Das Essen ist zwar sehr billig. An der Kasse kaufe ich einen Bon, setze mich an die lange Tischreihe, auf der brei­te Bananenblätter ausgelegt sind. Dann rollt die vielköpfige Bedienungskolonne an. Der Erste haut einen Haufen Reis auf das Bananenblatt, der Zweite bringt Wasser, der Dritte haut aus kleinen Gefässen einige Gemüsesorten auf das Blatt. Der Nächste schüttet anderes flüssiges Gemüse in den Reis­berg. Alles ist mir unbekannt, nur die Bohnen kann ich als solche erkennen, das andere erinnert mich an den Biologie-Unterricht.

 Ich ziehe Vergleiche zu den Stängeln des Wiesenschaumkrauts, zum Gemeinen Storchschnabel oder zur Ackerwinde. Was man nicht alles zu einem echten Vegetarier-Essen ver­arbeiten kann! Alles wird mit der rechten Hand ineinander gewalkt, und dann beginnt man sich den Haufen mit der Hand in den Mund zu schieben. Geht eine Gemüseart oder der Reis aus, knallt der Kellner im Lendenschurz gleich den Nachschub aufs Blatt. Das geht so lange, bis man zufrieden rülpst. Händewaschen, fertig. Andere Länder, andere… Du kennst das ja schon langsam.

Um zehn Uhr morgens sind wir an Bord. Der Ärger mit den Behörden hört bis zum Schluss der Zollabfertigung nicht auf. Einer der Weltenbummler vor mir sagt dem dummen Zollbeamten: „Ich wünsche, dass alle meine Wünsche für Indien in Erfüllung gehen!“ Was er meint, ist für uns leicht verständlich, wir geplagten Leidtragenden, doch der Zollbeamte lächelt gebauchpinselt. Beim Loslegen jubelt das Hitchhiker-Völkchen zweideutig, bei manchen ist nur noch Kruste übrig geblieben.

Ade India, ade Traurigkeit! Auf nach Malaya, Thailand, Indonesien!

6 Tage Schiffsreise, in der Sonne liegen, faulenzen, sich in die Essenfassen­schlange einreihen, usw. usw. Die ganze Überfahrt auf tranigem, faulem und trägem Blau. Einmal eine hopsende Herde Delphine. Fliegende Fische und faulenzen. Auf dem Erste Klasse Deck scherzen weisse Offiziersbügelfalten spassig mit Amerikanerinnen. Eine Seefahrt hat immer lustig zu sein.

Und da bin ich jetzt also in Penang, in Malaya. Der erste Eindruck ist Sau­berkeit. Saubere Strassen, saubere Häuser, saubere Menschen. Es ist wie eine Weihnachtsüberraschung. Nach dem elenden Futter auf dem Schiff stürzen wir zuerst in ein chinesisches Restaurant. Nach Händebesteck in Indien esse ich jetzt mit feinen Essstäbchen. Fast 90 % der Inselbewohner sind Chinesen. Überall schlitzäugiges Lächeln. Tausend kleine Läden und Geschäfte. Lange, enge Kleider mit aufregendem Schlitz bis, weiss ich wohin. Chinesische Schrift. Ich spiele schon mit dem Gedanken, mich mit kleinen Schulknaben auf die Schulbank zu setzen, um mit ihnen einiges zu lernen.

Bei einer Rundreise um die Insel fanden wir einen paradiesischen Platz mitten im dichten Dschungel. Unter einem klaren Wasserfall war ein kleiner See, der zu sehr zum Baden lockte. Wir verplanschten den letzten Bus, und als wir wieder auf der Hauptstrasse waren, konnten wir nur noch mit einem langsamen Bananensammler-Lastwagen zurückkommen.

Eben war ich im Museum und fand im Gästebuch die letzte deutsche Ein­tragung: „Gertrud Biber, Stuttgart Heumaden“! Ist das nicht ein Witz? Am anderen Ende der Welt! A propos Eintragungen: Dietrich Schroeder steht im Gästebuch der Informationsstelle vom 29. 1. Vielleicht war er noch mit Peter zusammen, und sie sind von Bangkok doch nicht sofort nach Kalkutta wei­tergeflogen. Vielleicht spielt der grosse Zufall uns doch noch zusammen. Wäre schön.

Morgen werde ich nach Kuala Lumpur trampen und dort die Australische Botschaft besuchen. Es liegt dann nur noch daran, wie schnell ich das Ar­beitsvisum bekomme. In der Zwischenzeit reise ich dann sofort nach Norden, nach Bangkok, wo wieder Post auf mich wartet.

Sei für heute wieder recht innig gegrüsst und umarmt, und freue Dich mit mir, dass die Welt hier so  sympathisch ist.

 Dein Sohn

 

  16. 2. 68

 Liebe Mutter!

 Damit keine längere Pause entsteht, schnell ein paar alberne Zeilen. 

Zuerst jedoch das Wichtigste. Hier bei der Australischen Botschaft hat sich jede vor­herige Sorge als Unfug herausgestellt. Mein Arbeitsvisum ist bereits in 14 Tagen fertig. Ich brauchte nur eine komplette ärztliche Untersuchung ma­chen zu lassen, dann war alles klar, und Dr. Oi Yok Han bestätigte mir Fol­gendes:

Herz – normal

Blutdruck – 100/60

Lungen – normal

Nervensystem – normal

Geistiger Zustand und Intelligenz – normal (hört, hört?!?!)

Verdauungsorgane – normal

Skelett + Knochen – normal

Haut – kleine Hitzepickel (am Hintern)

Hören – normal

Sicht – R 6/6 L 6/6

Geschlechtsorgane – normal

Urin – normal

Zähne – normal

Verformungen – keine

Höhe – 6 ft 5 inch

Gewicht – 88 kg

Röntgenaufnahme – Herz + Lungenschatten normal.

Klient ist alles in allem in Ordnung und fit!!!

Nachdem mir also so meine Mittelmässigkeit bestätigt wurde, werde ich nun doch endgültig nach Australien gehen, Millionär werden. Hier noch gleich die vier geteilten Ansichten, die eine Fotomaschine von mir hatte:

 

Also, ich finde mich richtig hübsch und irgendwie ganz der Fritz.

Ich bringe den Brief mit dem Rucksack auf dem Rücken zur Post und tram­pe gleich weiter. Von Penang aus war ich inzwischen in Kuala Lumpur, wo ich dies alles erledigte. Dann gab’s dort in der Nähe ein Hindu Festival zu sehen. Das war das Tollste, was ich in dieser Hinsicht bis jetzt gesehen und erlebt habe und verdient ausführliche Beschreibung. 

Von K.L. bin ich in den malayischen Dschungel, in die Cameron Highlands. Dort gab’s Eingeborene, die noch mit Blasrohr und Giftpfeil jagen, zu sehen. Wird auch noch erzählt. Jetzt bin ich wieder in Penang, genau gesagt, in einem Sikh-Tempel, in denen ich jetzt aus Spargründen immer schlafe. Es ist jetzt 7 Uhr morgens, und ich starte jetzt nach Bangkok. Dies alles schnell in Kürze, damit keine Pause entsteht.

Für heute ganz schnell 

von Deinem Söhnchen Hans

 PS. Nachdem ich in Indien als vegetarische Kuh Wiesen, Wälder und Felder abgesucht habe, grase ich nun mit dem chinesischen Speisezettel den Mee­resgrund ab.


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