Letters home 1967 -1978

Thursday, November 20, 2008

Advent - Advent


Hotel Bali Beach, 4.12.68


Liebe Mutter,

Also jetzt das ganze lieber noch mal in Klarschrift der Reihe nach :

Meine schwache Finanzbalilage im Oktober schlug sich mir etwas ins Gehirn, und ich kam zu dem Schluss, nachdem ich schon fast eine Woche lang auf ein paar Märkern lag, es muss mal wieder was passieren. Lebenskampf im Paradies. (Ich muss Dich also vorneweg gleich beruhigen, gehungert hab ich nicht, rauchen tat ich ständig, war gut gelaunt, geradezu aufreizend albern zu mir selber.)
Da tat’s dann nach so einem albernen Moment einen Schlag im Gehirn, und ich hatte wieder „ne Idee“. Bei Han Snel, das ist ein holländischer Maler, der schon seit ewigen Zeiten hier in Bali nistet, stand irgendwo in seiner Atelierecke eine vergammelte Handdruckpresse, die ich bald repariert hatte und die zu unserem gemeinsamen Staunen plötzlich wieder druckte. Jut, aber was drucken? Da gedachte ich dieser wunderschönen Schattenspielfiguren; wenn sie schon so schöne Schatten auf eine Leinwand zauberten, warum sollten sie dann nicht mal zur Abwechslung Druckfarbe auf Reispapier werfen? Sie taten’s dann gleich eine Woche lang von morgens bis abends bei 37° im Raum.




Die June, meine zeitweilige Eva und Kumpel aus Australien, betätigte sich als Verkaufsmanager, und da sie eine umsatzsteigernde Figur hat, kam der Absatz gleich ins Rollen. Hier kam gerade genügend heraus, um uns beide – das Kindchen war auch ganz pleite – am Leben und am Lachen zu halten. Der Verkaufsschlager jedoch ist in Australien, wohin meine handgedruckten Schattenfiguren flogen. Das verspricht mich vom elenden Verkauf meiner Wasserfarbenbildchen an Touristen unabhängig zu machen.

Da waren also Druckfarben zu bezahlen, Papiere und so weiter. Was vorerst übrig blieb, waren die Kröten zum einfachen ländlichen Leben, wie ich es in Ubud, June in Sanur in ihrem kleinen Fischerhaus direkt am Strand und manchmal, hier oder dort auch mal zusammen führten. (Yvonne Liebes, die schöne Italienerin, war ja inzwischen wieder abgereist, tränend, aber was soll’s, ich seh Dich ja in Australien wieder, Du Seemannslos)

Weihnachtskarten, 500 weitere Handdrucke, wie Du inzwischen schon einen hast, habe ich dann hergestellt im Schweisse meiner Brusthaare. Wieder das knappe Spielchen, Druckfarbe, Papier und Kosten (dreimal durfte ich bei meiner Ibu Rai umsonst essen!), und dann waren gleich wieder 100 Mark da, durch den verwegenen Verkaufsstil meiner Sekretärin und Verkaufsleiterin. Wir assen zur Feier des Tages gleich doppelte Portionen Reis.

June, mit sämtlichen Miniröcken und eng anliegenden Hosen, samt 300 Weihnachtskarten, zog nach Djakarta, um die Botschaften abzugrasen und Karten zu verkaufen, da das Geld aus Australien vom Kartenexport natürlich auf sich warten lässt. Uff, wieder sass ich auf jenen letzten paar Märkern.

Aber jetzt kam mein ganz grosser Vorstoss: Nach oben zum Top-Manager vom Wahnsinnshotel Bali-Beach in Sanur am Meer. So eins eben, wie es sich gar keiner von unserer Familie unter normalen Umständen leisten kann, ausser mir natürlich (ein Tag Vollpension 120,- DM, stell Dir das vor, mit 1200 Angestellten, die dauernd so in glitzernden Uniformen durch die Gegend schleichen.)

Stell Dir jetzt bitte mal Deinen Unsinnssohn vor : Seit genau 5 Monaten nicht mehr beim Frisör, hahahaha, wild und verwegen, in geliehenem weissem Hemd, etwas eng, vom Han Snel geliehen, in hellen Jeans, die Du ja noch kennst und ausgetretenen Latschen, aber, aber, aber dat jute Argument auf den Lippen.

Ha, ha. Was ein Leben, was ein Spiel ! Ich platze !

Erste Konferenz. Herren in skeptischen Anzügen, nickend, denn, und das war meine allerbeste Seite, ich hatte ja recht : Es muss was geschehen in Bali, meine Herren, sonst gibt es nur noch Ärger mit den Touristen ...

Einige Tage später zweite Konferenz, jedes Mal bei 10 $ Essen, pro Person und ich keinen Knopf in der Tasche. Alles, was ich hatte, war auf meinen Lippen und in meiner ansteckend albernen Laune. Es galt, mich gleich so teuer wie möglich zu verkaufen. Meine Forderungen standen hart gegen die von mir selbst aufgezählten Notwendigkeiten: es wurde gefeilscht. Nun, ich gab etwas nach, natürlich, und was herauskam, war folgendes:

Für 2400 Mark entwerfe ich nun einen Reiseführer für Bali, arbeite mit einem noch gar nicht existierenden Texter zusammen, habe, da ich weit und breit der einzige Fachmann in Druckangelegenheiten bin, den ganzen Laden unter mir, bin eigentlich nur einem Arbeitsteam von „hiesigen Freunden des Hotels“ verantwortlich, übernehme den ganzen Druckbetrieb, was, gemessen an Deutschland, wirklich ein Kinderspiel ist, denn in Singapore ist eine der besten Druckereien in ganz Asien. Da muss ich natürlich dann auch erstmal hinfliegen !

Was jetzt in dieser Hinsicht noch dazwischenkommen könnte, ist die Tatsache, dass Indonesien ja im Augenblick politisch mit Singapore auf Zankapfel steht. Das wäre ganz schlimm, denn dann müsste ich bis Tokio oder Hongkong! (Komm bitte nicht ins Schleudern!)

So. Da man in einem balinesischen Dorf wie Ubud kaum die Hand auf ein Blatt Papier legen kann, ohne dass es dran klebt, muss ich natürlich einen Arbeitsraum haben. Was lag da näher, als ins Hotel zu ziehen ? Drei Monate also wurden mir zugesichert und ich ziehe sofort ein und um.

Jetzt beschreibe ich erstmal mal so beiläufig, wo ich jetzt sitze und schreibe: Riesenbett mit orangener Decke, grosser Raum, teppichgefedert und ausgelegt, die Luft-Kühlanlage surrt wohl erzogen, aus dem Radio dringt gedämpfte Musik, Einbauschränke und Minimalmöbel (das heisst, der Tisch, der glasige, federt etwas, das muss ich ändern lassen) Badezimmer mit kalt und warm im Hahn. (Gerade wechselt ein hübsch verkleidete Dienerin das Handtuch, das ich erst einmal benutzt habe, macht jetzt das Bett zurecht, die Gute. Mein Apartment (ich weiss schon gar nicht mehr, ob mit einem oder zwei p) liegt zu ebener Erde, etwa 10 Meter vom Nichtschwimmerbecken des (jetzt leert sie meinen Aschenbecher, zzt, zzt) abends gedämpft beleuchteten Swimming Pools, zur Hausbar ist es genau halb so weit wie zum Meer. (Is there anything else, Sir? No, thank you! Excuse me. Gut’s Nächtle) Also, wie gesagt, alles frei für 3 Monate mindest. Man nennt das “good will” des Hotels. Essen besteht immer so aus Truthahn und so. Ach so, einen Wagen mit Chauffeur hab ich auch und Telefon und und und … neben mir selber herlaufend und in yoga-meditiertem Geisteszustand mich selber belächelnd.

Zum Wochenende jedoch geh ich nach Ubud in mein Haus und wenn meine Freunde erst mal wieder zurück sind, (die wissen noch gar nichts), dann wird erst mal gefeiert.

In zwei Wochen ist sone kleine Konferenz des Balinesischen Parlaments, hier im Hotel, und da wird dann mein Vertrag bewilligt oder nicht, sagt man mir. (Wenn nicht, so versichert mir der Herr Generalobermanager Siegfried Beil, dann übernimmt die Intercontinental-Hotelgesellschaft das Buch und mich ... na bitte). Ich bin optimistisch.

So, und jetzt muss ich Dich noch einmal ganz lieb um Verzeihung bitten, dass ich nichts von mir hab hören lassen, aber zum Schreiben kam ich ums Verrecken nicht, zwischen all diesem Theater, so ist es nämlich, das wahnsinnige Leben Deines Sohnes

Hans

Meine neue Adresse für Deine nächsten 486 Briefe
Mr. Hans Hoefer, Hotel Bali Beach, Sanur, Bali, Indonesia, Room Nr. C3


Sanur, Bali, 9.12.68


liebes Mutterle,

also so ein Brief, wie der von Dir gerade, nimmt mir gleich den ganzen Spass an meinem Swimmingpool.

Da muss ich mich doch gleich hinsetzen und Dir mal wieder deine tiefen Muttersorgen nehmen; Gottseidank hast Du inzwischen mein zwei letzten Briefe, hoff ich. Du bist sicher inzwischen auf dem Weg zur Höchstlaune über Deinen Bali Sohn.

Dein Brief, der vor meinem wundersamen Situationswechsel geschrieben wurde, bringt mich wieder zum Grübeln, was ich wieder falsch gemacht habe und das scheint mir wieder so wichtig, was Du wieder falsch gemacht hast…

Sei mir bitte nicht bös, aber ich muss Dir wieder eine kleine Predigt über das Leben halten, obwohl ich weiss, dass es mein ur-eigener Standpunkt ist, und der sich wechseln kann, morgen, nächstes Jahr, in 10, 20, 50 Jahren, und das ist eben diese Zukunft, die Du so wichtig nimmst.

Da hast Du auch gleich den oder einen der Gründe, warum sich meine Briefschulden in der letzten Zeit so gehäuft haben. (Ganz so viele sind es übrigens nicht.) Schau, so ziemlich alle Briefe an mich sind beladen mit Kümmernis, Einsamkeit, politischer Scheisse, und zwischen den Zeilen grinsende Verzweiflung, dass ich sie nicht einfach so im Handumdrehen beantworten will; das sind dann also die Briefe der Leute, die mir was bedeuten, und das sind meist alle, die mir schrieben, von einigem oberflächlichem Mistkram abgesehen.

Beneide mich bitte nicht um air-condition, saukalt ises hier!

Schau, Mutter, meine Auffassung vom Leben ist (noch jottseidank) sehr unterschiedlich von Deiner (leider, leider) und von der der meisten Leute, die ich kenne und vor allem derer, die mir schreiben. Schau, ich tanze abends in meinem leuchtend rot-orangenen Sarong in meinem Garten herum oder über einen schmalen Steg zwischen den gezirkelten Pfützen der Reisfelder; ich taumle wie besoffen vor Seligkeit im Licht der untergehenden Sonne, das es fast an jedem Abend hier in Bali gibt; alles Grün, und das ist fast alles, wird dämonisch, dunkel, von geheimnisvoller Saftigkeit, doch, und das kommt davon, wenn sich die letzte Sonne in den riesigen tiefen Wolken fängt, alles was rot oder gelb oder orange ist, leuchtet wie glühend in der Reflektion des indirekten Sonnenlichtes. Das ist die Haut der Balinesen, mein Sarong, das Tempeltor, die Hibiskusblüten in den Büschen, das ist der Rest der roten Druckfarbe an meinen Händen.

Kannst Du mir jetzt mal sagen, warum ich nicht Sorgen habe, denn ich besitze nichts als 80 Mark Schulden (inzwischen erledigt) an den Han Snel, der mir für die Druckfarbe und für die Karten Geld geliehen hat, eine inzwischen verwaschene blaue Hose, eine helle für offizielle Zwecke, ein wash-and-wear Hemd, blaukariert, mit drei Löchern drin, zwei von glühender Zigarettenasche und eins hinten; da bin ich im Dschungel von Nord-Thailand an einem Dörnchen hängen geblieben. Kannst Du mir mal sagen, warum ich tanze, natürlich nur so ein bisschen, damit die Balinesen nicht zu verrückt von mir denken, aber kapriolenschlagend innen, weil ich, verdammt noch mal, glücklich bin, weil ich mich frei fühle, weil ich, und wenn mich alle dort in Deutschland zerfleischen und mit ihren krummen Fingern drohen, weil ich tue und lasse, was mir Spass macht und mir das Spass macht, was ich tue und lasse. (Ja, als wir jung waren, warte nur, Dir wird das alles noch mal aufstossen, es ist unverantwortlich, so zu leben, denke an die Zukunft, denk an die Vergangenheit, denk, denk, denk), und dann geh’ ich nach Hause, denke, denke, und dann werde ich traurig und sooo melancholisch, ja so melancholisch, gehe vor lauter Melancholie aufs Melanklo. Ich werde noch melancholischer, weil ich heute geliebt werden will, und da ist keiner, die sind alle so wunderlich mit sich selbst beschäftigt, und ich lache über mich selber, denn ich bin ja gerade melancholisch, und das will genossen werden, ich liebe es geradezu, melancholisch zu sein, ich liebe es ja auch, wenn ich nass bin, ich geniesse die Schweissperlen, die mir heute beim Drucken der Schatten-Figuren in die Augen liefen, ich geniesse die Schmerzen in meinen Füssen, und ich geniesse den Regen und alles, alles, und ich lebe. Ich bin sozusagen total schizophren, ich laufe dauernd neben mir her, was ich auch mache, und meine Grundstimmung ist: gar nicht, ich lebe. Das ist, liebe Mutter, total verrückt, kitschig, romantisch schön, heldenhaft, tadelnswürdig und viel blöde Worte mehr. Aber eins ist es bestimmt: es ist wahr.

Natürlich nur heute, nur jetzt, morgen früh wird das zerschmetternde Zeichen kommen oder übermorgen oder, oder in drei Tagen oder in Australien oder, weiss der Teufel. Verstehst Du denn endlich, dass ICH MICH EINEN DRECK DARUM KÜMMERE, WAS AUS MIR MAAAAAAL WIRD ? Natürlich verstehst Du das falsch, denn Du denkst, alles an einer Person ist eins. Recht hast Du, alles zusammen ergibt die Person, aber, und das ist jetzt und die letzten 12 Monate JETZT, dieses ICH, was immer und jederzeit wie durch eine Wundergabe aus mir heraushüpfen kann, gehört dazu!
Liebe Mutter, dieses ICH, das ist auch in Dir. Und noch was, das Herausspringen habe ich gelernt, wodurch, durch mein Leben, durch das, was durch meine sämtlichen Löcher zur Aussenwelt in mich hineingesickert ist, durch Auge, Ohr, Nase, Mund, Geschmack, Gefühl, Tasten, Schmerz und all die tausend anderen Löcher. Mit anderen Worten, ich bin 90 Jahre alt, viel älter als Tante Gertrud und Onkel Rudi - und gleichzeitig noch nicht geboren, denn der erste Lebensschrei ist vielleicht noch gar nicht getan und erfolgt erst dann, wenn mir jemand die Nabelschnur des jetzigen Lebens durchschneidet.

VIELLEICHT, VIELLEICHT, aber das ist ja erst „wirklich“, wenn es JETZT wird. Aber bitte, verzeih, ich freu mich auch darauf.

Liebe Mutter, schau, leider kann ich nicht in Dich hineinspringen, ich kann Dir, und jedem der es hören will, das nur in geschriebenen Worten geben . Ich gebe Dir das zum Lesen, Hören, Verstehen, Lernen oder auch zum Kummer, zum Missverständnis oder zur Einsamkeit. Das alles, wie Du es nimmst, das bist DU, meine Mutter, die mir das Leben gab und die sich jetzt um mich sorgt, dass mich schier die Verzweiflung packt.

Und das alles passiert, während ich gleichzeitig bemerke, dass ich kalte Füsse kriege, wegen der AIR-CONDITION in meinem Zimmer. (Unmensch, der hat überhaupt kein „Gefühl“, wie kann einer an seine kalten Füsse denken, wenn ihn die Verzweiflung packt?)
Ich kann weinen, wenn ich an den blinden Bettler denke in Indien, den sie aus dem Zug geworfen haben, mitten in der Nacht, irgendwo in einem kleinen Bahnhof, weinen, wenn ich zum ersten Mal den besten Maskentänzer Balis sehe, weinen, während ich kalte Füsse habe.

Sag mir, was Leben ist, sag mir, was alles falsch ist an meiner Haltung, sag mir Deine Wahrheit, und sag mir auch bitte, WARUM DU DICH SORGST? Und dann frag Frl. Macke oben nach ihrer Wahrheit, und frag Tante Gertrud und Onkel Rudi, der wohl von allen Verwandten am meisten leidet, weil er sein ganzes Leben lang über sich selbst nachgedacht hat, und da niemand war, der ihm sagte, wie fantastisch es ist, zu leben, zu lieben, zu leiden und kalte Füsse zu haben. Frag Helga und Heri und Onkel Fredy, frag sie, warum sie sich sorgen und worüber, und frag sie auch, was sie glauben und und und ... Und lass sie das bitte mal aufschreiben, Hosen runter, und lass sie mir ihre Wahrheit schicken, ich schreibe am gleichen Tag zurück. Denn ich liebe alle, ich liebe die ganze Welt!

(So was Blödes kann auch bloss DER schreiben, der hat’s gut, der mit seiner Paradiesinsel; in Wirklichkeit träumt der doch nur, der raucht wohl ein bisschen viel oder FRISST ZU SCHARF, der soll erst mal arbeiten, Verantwortung tragen, Kinder haben, was „Vernünftiges“ leisten, Geld verdienen, Existenz aufbauen, der soll mal erst existieren, der soll mich mal, der soll mich, der soll, DER.)

So, jetzt bin ich wieder Sohn. Sei mir nicht böse, wenn ich mich zu sehr aufblättere, ich will alles, nur nicht, dass Du Dich wieder SORGST. Aber schau, wenn ich Deinen Brief lese, dann sehe ich Dich da alleine in der Wohnung sitzen, „Adventsstimmung“ und die Angst vor dem Weihnachtsfest; draussen schifft es natürlich, und die Laterne über der Strassenkreuzung bei Heckmanns spiegelt sich, wenn Du auf die Strasse trittst, vor Dir im Gekringel der Tropfen auf dem Gehweg. Ich will Dir einfach sagen, dass das auch schön sein kann, ja schön ist. Ich muss Dir sagen, dass es keinen Grund gibt, ständig so verzweifelt zu sein. Mach Dir Deine Freude selbst. Warte nicht, bis Dir jemand eine Freude macht. Geh dreimal ins Kino pro Tag, oder schmeiss ne Fensterscheibe ein, oder lies Bücher, oder fahr zum nächsten Folklore-Abend nach Essen, oder demonstriere gegen oder für, kauf Dir Beatle-Platten, oder lerne Englisch oder Alt-Ägyptisch. (Hast Du gerade auch so kalte Füsse? Also, ich geh jetzt mal ins Restaurant nach vorne und esse….ich sag’s Dir gleich:

…also, das war Shrimp Cocktail (Krabbensalat mit köstlicher Sauce drauf und Salatblättchen, kleingeschnibbelt drunter, etwas Zitrone über alles), dann eine deutsche Mutter am Nebentisch, die ihrem Kind sagte „Hände auf den Tisch!“, dann Escalope of Veal Parisienne (Bratkartoffel, Schnitzel in Ei gewälzt und Stangengemüse mit weisser Sauce drumherum, aber auf der Karte hört sich das besser an, nämlich…) sauted potatoes, leeks a la Paysanne, danach ihr Gemahl, der zu mir „guten Abend“ nickt, denn er weiss, dass ich weiss, dass er ein Manager einer Hotel Abteilung hier ist, und ich nicke „guten Abend“, denn ich weiss, dass er weiss, dass ich ein eigenes Ressort, sprich Büro, mit dazugehörigen Requisiten und Zuständigkeiten habe.

Dann ein Schluck Bier zwischendurch und dann das Dessert: Babu au Rhum, (ein Puffgebäck, getränkt in Zuckerwasser, dass es mir den Kragen meines neu massgeschneiderten Hemdes zuzog, darauf Sahne und ein rotes süsses Ding drauf. Darauf sagte der Gemahl zu seinem Kind „put your hand on the table“, denn er erzieht sein Kind gleich in mehreren Sprachen, so ist’s recht, will man meinen. Der Ober ist Balinese, zeichnete sich jedoch ausserdem noch durch ein gekonntes Lächeln und durch knarrende neue Schuhe aus. Zuhause geht er barfuss.

Durch das Essen habe ich natürlich oder gottseidank den Faden zu meinen unverschämten Massregelungen verloren, daher will ich Dir mal schnell beweisen, dass ich eine eigene Schreibmaschine habe, huebsch nicht? Aber eine englische ohne ue. Ich muss natürlich noch etwas üben, aber ich muss sowieso ne hübsche Sekretärin haben, sonst lächeln die anderen Manager noch über mich.

Ich hatte übrigens gar nicht vor, meine Weihnachtskarten in Deutschland zu verkaufen, und ausserdem hab ich’s auch nicht mehr nötig, weil ich im Augenblick so ein grosser Boss geworden bin. Na, ich bin ja mal selber gespannt, was für ein Buch ich aus Bali mache, und dann bekommst Du ein oder gleich drei schöne Exemplare mit Widmung des Art-Directors und Production-Managers und, wie es so aussieht, auch Herausgeber. Und hinten steht dann ganz deutlich zu lesen: Sohn hat’s gemacht. (Freu Dich nicht zu früh, vielleicht regnet’s morgen)

So, jetzt lese ich noch mal Deinen Brief. Wie ich in dem „kalten, nüchternen“ Australien leben werde ? Ausgezeichnet natürlich !

Dass der Walter keine Briefe von mir erhalten hat, liegt hauptsächlich daran, dass ich nicht geschrieben habe. Dass er nach all den schweren Schlägen in seinem Leben jetzt auch noch heiratet, finde ich bedenklich, dass er dabei auch noch glücklich aussieht, hat nichts zu sagen, da er immer glücklich aussieht. Dass er viel arbeitet, unterscheidet ihn die letzten Tage kaum von mir. (Gerade habe ich auf Musik von Lonnie Donnigan im Zimmer auf’m Teppich rumgetanzt, schrumm, schrumm, schrumm). Morgen geh ich in mich.

Dass mein Leben jetzt so unvorstellbar für Dich ist, macht nichts, ist es doch selbst für mich ganz unvorstellbar.

Meine Freunde sind noch nicht zurück, die fallen gleich zur Begrüssung auf den Hintern, und dann werden sie mich gleich furchtbar blamieren wollen. Ich erwarte sie jeden Tag. Die Burschen müsstest Du mal kennen lernen und ihr Leben. Die haben in Kuala Lumpur eine riesige Ausstellung gemacht, die der deutsche Botschafter selber eröffnete. Da wir alle drei wissen, dass die Bilder verhältnismässig Scheisse sind, war ihre Schau ein besonders grosser Erfolg. Leider nicht so arg einträglich, trotz Botschafter.

So, das waren Deine Fragen.

Verzag bitte nicht gleich immer, wenn ich mal zwei Wochen oder zweieinhalb nicht schreibe. Ich habe doch immer das Gefühl, dass ich Dir von dieser Reise wirklich viel geschrieben habe und manchmal sogar lange. Hast Du überhaupt noch Platz in der Wohnung für weiteres Papier? Der nächste Brief wird gleich noch mal so lang. Könntest Du evtl. einen Tonbandbrief zu Weihnachten ohne grosse Heulkrämpfe und Herzattacken überstehen? Ich muss mir das wirklich ernsthaft überlegen. Da ich jetzt Kapitalist bin und bald frei nach Singapore fliege (60 DM Spesen pro Tag, wo ich doch ein Hotelchen kenne für 4 Märker pro Nacht, kann aber auch sein, dass ich dort von der Druckerei rumgehätschelt werde. Der Auftrag beläuft sich etwa um 40.000 DM ) Da läge so ein nettes Tonbandgerät schon drin. Erzähle mir bloss nicht, ich soll mein Geld für die Zukunft sparen.

So, auf dem Weg zum Millionär, halte ich trotzdem inne, um Dich zu umarmen, Du sorgenzerfetztes Mütterlein.

Sei tausendmal geküsst von

Deinem Hotel Intercontinental






Bali, 12. Dezember 1968
Meine liebe Familie,

Betrifft: Weihnachtsbrief

wie Ihr ja schon wisst, habe ich immer grosse Malesse mit Briefen zu festgelegten, vorbestimmten Anlässen. Ich will Euch nicht gleich zu Anfang Eure bereits festgelegten Gefühlswallungen diesem Brief gegenüber verderben, aber es ist halt eine Tatsache, dass ich im Augenblick jetzt, wo ich ihn schreibe, recht wenig mit den Äusserlichkeiten des Weihnachtsfestes zu tun habe, denn erstens ist noch nicht Weihnachten und zweitens bin ich in Bali.

Es wird mir also auch dieses Jahr nicht gelingen, einen schönen Weihnachtsbrief zu schreiben, worüber Ihr betrübt sein möget. Es wäre mir die Umkehrung dagegen viel lieber, dass Ihr jeden Brief von mir als Weihnachtsbrief betrachtet und sich die Sache mit den Gefühlen selber aufhebt, das heisst, wieder normalisiert. Irgendwelche Betrachtungen zum inneren Sinn, wenn man so will, verschiebe ich lieber auf später. Das liegt vor allem daran, dass es mir zuviel „innere Sinne“ gibt, in Deutschland etwa 57 Millionen. Was übrig bleibt, ist die wunderbare Tatsache, dass ich weiss, dass wir alle an einem bestimmten Tag mit Gedanken beieinander sind, und das ist schon eine ganze Menge Wesentliches.

Es ist ungeheuerlich, wie sich das alte Jahr so wahnsinnig schnell davon macht und dazu so unendlich viel Zeit brauchte. Das sind für mich Kleinkind alles sehr mahnende Zeichen, dass ich fürchterlich schnell alt werde. Genauso heute morgen, als ich mich in meinem weiss gekachelten Badezimmer vor dem Spiegel kämmte. Stellt Euch vor, was passiert ? Mein alter Kamm verlor die ersten Zähne, gibt es ein deutlicheres Zeichen für frühzeitiges Altern ?

Im Hotel hier wurde ich heute morgen zu Tode erschrocken. Man hatte, ohne mich vorzuwarnen, im architektonischen Zentrum der Empfangshalle einen Weihnachtsbaum aufgestellt. Doch was muteten mir die Balinesen damit zu, mir, dem Christbaumschmück-Kundigsten in Krefeld und in ganz Bali? Der Baum war etwa um 40 cm zu lang, und was taten diese balinesischen Engel von Hotelarbeiter? Sie kappten die Spitze des aus weit heran geflogenen Tannenbaums, und nicht den Fuss. Jetzt passt er genau ! Bis zur Decke, in der seine Spitze wie durch Magie verschwindet.
Doch das ist nicht das einzig Goldige an diesem Baum. Er wurde gleich mit Goldlametta in drei Schichten übereinander bepflastert, und die künstlerisch berauschten Balinesen setzten ihren Vergoldungswahn auch ausserhalb des Baumbereiches bis zur Ekstase fort. Wenn ich jetzt zum Restaurant gehe, nein schleiche, kann ich meine Augen nur halb öffnen, um nicht durch den Überfluss, nein Überstruss von Goldpapier und Flitterjedöns den Märtyrertod eines Christfestbaumschmückkundigen zu erleiden.

Das Essen liegt schwer im Magen, so dass ich nur durch den Swimmingpool und die erholsamen Spaziergänge in den nahe liegenden balinesischen Dorf von der Gefahr einer akuten Fettsucht über die Hotel-Vor-Weihnachtstage hinweg gerettet werde. Das Dorf ganz in der Nähe ist übrigens ein wunderbares Beispiel dafür, dass der Tourismus keine grosse Gefahr für Bali ist, wenigstens nicht die Touristen selbst. Er ist zu weit vom Hotel, um zu Fuss dorthin zu gelangen (2 km), aber viel zu nahe, um ein Taxi zu nehmen. Kein Mensch kommt da hin. Wunderbar!

Ah, apropos Weihnachtsstimmung. Ich habe da eine holländische Touristin kennengelernt, also so ein Weihnachtsengel …

Inzwischen arbeite, das heisst verlustiere ich mich weiter an meinem Reiseführer über Bali. Manno, manno, was für ein wunderbarer Job. Gestern habe ich zusammen mit den Balinesen zum x-ten Mal in diesem Jahr Neujahr gefeiert. Da bin ich mit meinem Chauffeur durch die halbe Insel gerauscht, um ein paar Fotos für den Reiseführer zu schiessen. Bin kaum dazu gekommen, so toll feiern die Leute hier. Übrigens bin ich für balinesische Verhältnisse noch gar nicht sooo alt; ich bin nur 42 Jahre alt, weil das Balijahr nur sieben Monate hat.

Im Augenblick stelle ich die einzelnen Kapitel zusammen und mache Studien in allen erreichbaren Büchern über dieses Inselchen. Und stellt Euch vor, was ich die letzte Stunde hier an meinem Schreibtisch getan habe? Ich bin damit beschäftigt, einen Weihnachtsbrief an Euch zu schreiben !

Zusätzlich ist, neben sehr viel Klimbim, Telefon und Locher, mein Schreibtisch mit einem Stapel von Weihnachtskarten belastet, an die ganze Familie, und weil die immer grösser wird, ohne dass ich da mahnend Einfluss hätte, fängt fast jede mit ‚meine Lieben’ an, zusammenfassend alle catchend. Wie schön das ist, diese Karten zu schreiben. Was es kostet, sie zu senden, wag ich gar nicht zu bedenken.

Übrigens war meine Verkaufsmanagerin June in Sachen Weihnachtsgeschäft mindestens ebenso erfolgreich wie meine Karten selber! Ich machte etwa 600 DM Profit fürs erste, Rest kommt noch! Na bitte, ich werde doch noch mal ein Millionär. Ihr müsst nur etwas warten. Warten müssen übrigens noch viele Menschen, sei es auf das grosse Glück, auf die nächste Gehaltserhöhung oder nur auf das Ende dieses langweiligen Weihnachtsbriefes. Das Wort „warten“ erinnert mich auch an meine Briefschulden, und Dir, Helga und Heri, könnte ich jetzt gleich ein ganzes Register von bemerkenswerten Argumenten aufzählen, warum Ihr bis jetzt noch keinen Antwortbrief bekommen habt. Das wichtigste Argument jedoch will ich von vorneweg ganz ehrlich benennen. Es liegt vor allem daran, dass ich noch keinen geschrieben habe!

Das macht nichts, wir verzeihen Dir das noch einmal, wir wissen ja, dass Du von morgens bis abends durch die Gegend spinnst und die einzigen seriösen Gedanken nur Dich selber betreffen, Du blöder Egoist.

Kurz meine schizophrene Tendenz zusammenfassend: ich will mich ja so bessern! Ich hoffe nur, dass ich davon nicht wieder abgehalten werde. Was ist denn jetzt schon wieder…ach, so, der Zimmerjunge, er wechselt jeden Tag geschlagene zwei Mal alle meine Handtücher, sieben Laken an der Zahl, glaub ich, jedenfalls brauch ich immer nur eins, es ist zum Verrücktwerden, wie oft soll ich mich denn waschen?

Also, wo war ich, ach so, in Bali, stehengeblieben … (mein Wagen ist übrigens ein Ford!) Ich mache also weiterhin Fortschritte in fast allem, nur nicht an meinem Schreibtisch im Augenblick.

Übrigens ist bald Weihnachten! Da freut Ihr Euch sicher drauf, was? Zur weiteren Freude, ich erspar Euch auch wirklich nichts, habe ich heute morgen mit der gleichen Post, mit der ich Euch diesen Brief schickte, eine Rolle mit 7 verschieden verunstalteten Blatt Papieren (wie sagt man das im Plural?) von hier abgeschickt. Ihr könnt das als Weihnachtsgeschenke oder als Zumutung betrachten. Mit der Hand gemalt. Ich dachte mir, vielleicht sind noch ein paar angebrannte Stellen an der Wand oder leere Flecken im Klo, da könnt Ihr diese Bilder aufhängen. Eine nähere Erklärung meiner Erstlingswerke folgt, nachdem ich geschlossen habe. Ich verspreche allen, dass ich bald wieder aufmachen werde.

Damit dieser Brief Euch nicht weiterhin die Weihnachtszeit vertreibt, will ich Euch alle ganz schnell an mich drücken.

Ich liebe Euch alle

PS.
Zu den Bildern:

Da ist so ein blaues Ding, Verirrungen eines Pinsels in blauer Wassersuppe! Nach eingehender Prüfung erkenne ich daraus eine balinesische Verbrennungszeremonie, bei der es regnet und kaum ein Feuer in Gang zu bekommen ist. Die zackigen Gegenstände oben sind meist Palmen, was unten herumflimmert, sind Leute, Hunde, Pfützen, Türme aus Bambus und Pappe und Holz. Das entstand vor vier Monaten in Ubud.

Dann flimmerte es auf einem dünneren Papier mehrmals in gelb und orange. Das ist ganz am Anfang, so im Juni in einem kleinen Dorftempel in Dalem Semesi entstanden und statt mit richtigem Wasser mit Kokosnusswasser von der 12. Palme rechts hinten im Bild.

Fast am selben Tag, die orangenen und gelben Farben waren noch nass in meinem Aquarellkasten, kam ich an die Küste, wo drei Auslegeboote herum standen. Das Fischerdorf hiess Buitan. Über der Schnauze vom mittleren Boot ist hinten an der Küste ein hellerer Fleck stehen geblieben, was ich damals noch nicht wusste, es war das Haus des Malers Christiano, das ich inzwischen schon so gerne bezogen hätte aber es nicht geschafft habe.

Ganz weit oben in den Bergen liegt Kintamani, am Rande eines alten Kraters, in dessen Mitte heute immer noch ein Vulkan dampft. Dort war’s saukalt und richtig wild und eigentlich sehr unbalinesisch. Überall liegen noch Lava-Asche und Steine herum, vom letzten Ausbruch 1963. Da brach ich auch aus und habe das nasse Papier verkratzt (ebenfalls im Juni).

Dann sind da zwei schwarze Gegenstände. Das sind Drucke, die ich in der letzten Zeit gemacht habe. Die Balinesen haben so kleine Kalender im Haus hängen, mit ganz magischen Zeichen und Quadraten drauf. Diese Dinger haben mich inspiriert, und ich drucke seither meine eigenen Bali-Kalender. Diese beiden sind „kleine“ genannt, weil die grossen grösser als ein Quadratmeter sind.

So, nun weiss ich überhaupt nicht, für wen diese Sachen sind. Ich denke, dass Du Dir das aussuchst, was Dir am besten gefällt. Der kleine Kalender mit dem weissen, von hinten aus Papier geprägtem Mittelstück ist für Helga und Heri, für die Beiden habe ich das Ding ja gemacht. Mehr zu fühlen als zu kucken. Hinter Glas wäre das wegen der erhabenen Prägung natürlich blödsinnig.

Harald : vielleicht den anderen Druck, der aussieht, als wenn man des Nachts plötzlich total besoffen zum Himmel guckt und darin ein magisches Kreuzworträtsel erkennt. Das weisse Quadrat ist eigentlich Blödsinn, aber da es ja mein Kalender war, bedeutet das „Jetzt“.

Ach Gott, da hab ich eins ganz vergessen: Das flimmert ja ganz wild. Das ist ein Blick in einen Tempelvorhof, während der Opferdarbringung. Normalerweise ist der Tempel leer, aber plötzlich bringen die lieben Leute alle ihre Opfergaben gleichzeitig zur Segnung, einige bis zu zwei, drei Metern hoch, aus Reis, Bambus, Früchten, Fleisch und alles, was in Bali nicht niet- und nagelfest ist. Dann sieht der Tempelvorhof plötzlich aus wie ein überfülltes Wohnzimmer, und das Auge verheddert sich hoffnungslos in Düften und Musik, und man wird ganz blöde im Kopferl und malt so ein Aquarell da.

So, das war die Beschehrung. In der Mitte liegen zwei kleine Bilder eines alten Balinesen. Da sie etwa 836 mal besser sind als meine, muss ich sie, egoistisch wie ich nu mal bin, leider selber behalten.

Hans