Letters home 1967 -1978

Saturday, September 20, 2008

Two in September**


Denpasar, 11. 9. 68


Liebe schlammwatende, grastretende, bademantelumwickelte, um10 Pfund-schwerer-gewordene Erholungskurmutter!

Sicher lenkt Dich Dein Kurdasein noch nicht genügend ab, so dass ein kleines Restchen von Sorge um Deinen Spross zwischen den Palmen Balis geblieben ist. Um diese schnell wieder zu zerstreuen, will ich Dir kurz versichern, dass ich gerade wieder mit Appetit einen Reisberg, durchflochten mit geheimnisvollen Fleisch- und Gemüsespuren, verdrückt habe, mich satt und schön finde und trotz dem nervenaufreibenden Straßenverkehr in der „Großstadt“ Denpasar, trotz zeitraubendem, stinkfaulem Asienbürokratismus im Pass-Visum-Verlängerungsamt, immer noch glaube, einer der wunsch- und sorglosesten Erdenbürger zu sein. Also, mir geht’s sauwohl.

Vor ein paar Tagen erhielt ich auch Deinen ersten Erholungsbrief aus Bad Hermannsborn, den ich prompt in Ubud vergessen habe und so die Postleitzahl nicht mehr weiß. Aber die deutsche Post ist ja so tüchtig, so dass ich weiß, der Brief kommt auch ohne an.

Es gibt eigentlich wenig zu berichten von den vergangenen Tagen, nur, dass ich stinkfaul bin, weniger male und dafür mehr lese. So habe ich gerade das Buch von der Vicki Baum gelesen, habe es mit dem jetzigen Bali verglichen und kam zu dem Schluss, dass sich doch herzlich wenig bis heute verändert hat in diesen Menschen. Tourismus, das Auto und das Transistorradio machen ihren Erfolgsmarsch quer durch die Welt und werden auch hier gewinnen. Aber es gibt noch Hahnenkampf, Gamelan, Tanz, Verbrennung, also alles, was Du so aus dem Buch kennen gelernt hast. An derselben Stelle, wie im Buch beschrieben, ist hier sogar noch ein Dorf mit Leprakranken, jedoch jetzt sauber und von christlichen Missionaren betreut. Von den Tempeln ist aus dieser Zeit kaum noch etwas vorhanden. Was die Holländer damals bei ihren Eroberungen haben stehen lassen, wurde durch ein Erdbeben 1917 zerstört. Aber schöne kitschige Porzellanteller gibt’s hier und dort doch noch in den Tempelwänden. Witwenverbrennung soll’s keine mehr geben, aber ich bin da etwas skeptisch, was die abgelegensten Dörfer im Gebirge anbelangt. Aber wie gesagt, nur eine Vermutung von mir, denn im Landesinnern hat sich so gut wie gar nichts verändert. Ich finde das Buch zwar nicht so doll, aber ganz gut, und es zeigt etwas von der schier unergründlichen Seele dieser Menschen hier, die uns immer wieder vor unbegreifliche Tatsachen stellen. Leider bleibt man hier, wie eigentlich kaum in Asien, immer außerhalb, soviel Herz man ihnen auch schenkt, und ab und zu knalle ich vor die unüberbrückbare Mauer, die zwischen dem weißen Mann und den Balinesen steht. –

Es hat sich also wenig ereignet, immer noch ziehen Ameisen durch unser Heim, immer noch grunzt unser Schwein, immer noch blüht es hinten und vorne, immer noch bin ich nicht in eine verliebt, sondern in alle, immer noch regnets ab und zu gewaltig und dampft hinterher. In dem Dachgebälk über meinem Bett ist ein riesiger Gecko eingezogen, den ich jedoch noch nicht gesichtet habe und der sich nur durch gelegentliche Scheißbällchen in meinem Bett und sich lautstark bemerkbar macht. Zum Meer bin ich immer noch nicht gezogen, ich will damit noch was warten, bis Gerd und Werner für einige Wochen nach Djakarta reisen müssen, um ein neues Visum zu erhalten. Meins hält übrigens noch bis Ende Oktober, und ich verspüre immer noch keine Lust, hier abzuhauen !

Ich freue mich so darauf, weiteres vom Fortschritt Deiner Erholung zu hören! Filme habe ich auch jemandem mitgegeben, der sie von Dänemark aus in einigen Tagen zu Harald schicken wird, falls der es inzwischen nicht einrichten konnte, doch für ein paar Tage nach Spanien zu kutschieren.

Damit Du auch nicht glaubst, ich müsste grosse Geheimnisse vor Dir haben, gestehe ich offenherzig, dass da wieder mal eine hübsche Australierin war, die so viel von Australien zu erzählen hatte, dass sie einige Nächte lang meine Bastmatte teilen musste. Sie meinte danach auch, Bali sei viel schöner als Australien !

Wie gesagt, es gibt also nichts besonders Neues und Aufregendes zu berichten. Da haben sie vom Life-Magazin einen Bericht gemacht über die Ketschak-Tanzgruppe aus dem nächsten Dorf, und ich war dabei, wohl aber kaum mit auf’m Foto, mein Gesicht war ihnen wohl noch nicht balinesisch genug, und das kann ich verstehen. Das deutsche Fernsehen hat auch einen Film vertan hier in Bali und zwar im Rahmen einer sauteuren Unterhaltungssendung mit den Beatles und dem Franki Sinatra um die ganze Welt. Ausgerechnet hier in Ubud müssen’se herumrennen und nur 80 DM für so einen schönen Tanz wie den Ketchak bezahlen, an dem sich über 100 Männer beteiligen. So jedoch kannst Du den auch mal sehen, und viel falsch machen konnten sie nicht, die Balinesen machten ja alles, sie brauchten nur die fetten Kameras hinzuhalten. Sonst waren die Leutchen vom 2. Deutschen Fernsehen reichlich blöd und sprachen nur von Zahlen, (leider viel zu wenig vom be-zahlen, denn sie hätten weissgott mehr an die tanzenden Reisbauern bezahlen können). Dass ich mich auch noch darüber äussere, find’ ich jetzt selber saudoof.

Wie gesagt, da es nichts besonderes zu berichten gibt, obwohl es ganz bestimmt viel zu berichten gäbe, ich das aber schreibfaul verschiebe, will ich diesen Brief schliessen, wie dieser Militärzahnarzt hier in Denpasar vorgestern mein Löchli im dritten Zahn von hinten oben rechts.

Sei lieb und erhole Dich weiter schön. Es grüsst und küsst Dich herzlich

Deine neue Zahnplombe

Ich fahr jetzt wieder zurück nach Ubud zu meinem Gecko! Hoffentlich hält der Bus auch diese Wahnsinnsreise nochmal durch!!



Ubud, 21. 9. 68


Liebe Mutter,

Du schreibst so tüchtig was mich gar wirklich überaus heftig freut, und ich bin schon wieder einige Tage zurück mit meiner Antwort, aber obwohl es manchmal scheint, die Zeit würde völlig stehen bleiben, geschieht doch ständig etwas, und die Tage flutschen dahin.

Zwei kleine Neuigkeiten vorneweg; habe an den deutschen Botschafter hier ein Aquarell für teure 140 Mark verkauft. Das Futter also bleibt weiterhin gesichert; dann bin ich auch noch hier an der einheimischen Kunst-Akademie zum Gast-Dozenten aufgeklettert, was eigentlich beides wenig sagt. So pendle ich also regelmässig zwischen Haustempel und Zuhörerkreis, was beides weiterhin Spass zu machen verspricht.

Gerd und Werner haben mich heute für einige Wochen verlassen, so dass ich nach dreimonatigem innigem Familienleben heute Abend zum erstenmal wieder richtig für mich selber bin, von unserem Gecko im Gebälk, von Ameisen und Grillengezirps abgesehen. Ich freue mich richtig auf die Einsamkeit, die mich zu manchem Nützlichem zwingt, wie zum Beispiel zu einem etwas eingehenderen Studium der indonesischen Sprache. Gerd, der fast perfekt und besser als Werner darin ist, hat leider viel zu viel ausgeholfen und damit meine Lernfaulheit unterstützt. Das muss aber anders werden, und ich hoffe, bald mit meinem Sprachschatz anderen, als nur vierjährigen Kindern damit imponieren zu können. Sandi und Wörterbuch helfen tüchtig mit, wobei ich den geschwätzigen Sandi dem stillen Lexikon gerne vorziehe, weil er jetzt und ohne Rücksicht auf mein Briefschreiben gerade munter drauflos plappert.

Dann habe ich „mal wieder“ eine Idee gekriegt, wie ich nebenher und redlich zu Geld komme. Du kennst ja solche Ideen, wie damals die Weihnachtskarten in Kathmandu, aber diese scheint noch weit einträglicher zu werden. (Ich bin doch ein schlimmer Kapitalist aber mit pur kommunistischen Idealen !) Ich werde Dir lieber den gelungenen Vollzug melden, wenn’s so klappt, wie ich es mir ausrechne.

Wenn Du von Essen und Kuraufenthalt niederkommst, sollst Du diesen Brief gleich zuhause vorfinden, der Dich dann sicherlich über die völlig durch Harald ruinierte, total verlumpte Wohnung hinwegtrösten soll. Natürlich können Dich solche Kleinigkeiten jetzt überhaupt nicht mehr im geringsten erschüttern, wo Du Dir doch so ein dickes Fell aus Schlamm und Kuranlagen anerholt hast.

Also Deiner Frage nach dem Nervensystem der Balinesen bin ich etwas nachgegangen und komme zum Schluss, dass diese „garkeins“ haben. Etwas, was die Balinesen aus ihrer asiatischen Gelassenheit bringen könnte, gibt es und gab es nicht in ihrer gesamten Geschichte. Die sind ständig gelassen, bis in den Tod. Das ist eben so was Wahnsinniges, dass ich mich darüber richtig aufregen kann. 

Unsere Ibu Rai, die ich am Tag dreimal besuche (Ibu heisst auf nord-deutsch ‚Mutter’) rief nur „behh !!“, als ich ihr von Deiner Kur erzählte. („Behh !“ heisst auf süd-deutsch „Ha-noh !“).

Dabei arbeitet sie von morgens bis abends wie besessen in ihrem kleinen Warong (das ist eine Futterbude, in der es auch Tee gibt), trägt Wasser und schleppt Holz und hat noch einen 8-köpfigen Haushalt und einen Mann, dessen Hauptbeschäftigung es ist, gelassen zu lächeln. Sie füttert uns redlich und gleichmässig, so dass ich immer dicker werde und gerade gerülpst habe, dass die Wände wackeln. Dabei ist die Ibu ständig so gut gelaunt und lacht wegen jedem Mist schallend und aufreizend, so dass wir alle eben mitlachen müssen. Wir sind also alle drei ganz verliebt in diese Type, und ich muss Dir ein Bildchen von uns beiden schicken.

Gestern Abend gab es mal wieder einen „Barong-Tanz“ hier in Ubud. (Du kennst ihn ja sicher jetzt durch die Beschreibung im Buch der Vicki Baum) :  Es ist einfach unbeschreiblich, dass in einem Theaterstück der ‚heilige’ Barong, eine riesige Loewenatrappe die sonst im Tempel hängt, zu einem Darsteller wird, der Witze macht und seine Rolle mitspielt. Doch wenn dann andere Maskentänzer mit Dämonenmasken auftreten, dann kehrt sich Schauspiel zum Mythos, oder zur lebendigen Religion, und die Mitwirkenden, Barong, Maskentänzer und dann noch einige Zuschauer geraten ohne Übergang vom Spiel in tiefe Trance. Die Kristänzer (Kris ist ein Dolch), die vorher noch im Spiel die fürchterlich aussehende „Rangda“-Maske angreifen, werden von dieser plötzlich verwandelt und richten ihre scharfen Messer gegen sich selber.

Stell Dir mal vor, in einem deutschen Theaterstück schnappten die Schauspieler plötzlich über und versuchten, sich mit aller Gewalt selber zu erstechen.

Und was dann kommt, ist wirklich zum Wahnsinnigwerden. Es gelingt ihnen nicht! Die scharfen, langen spitzen Klingen biegen sich unter der Wucht des Druckes auf der nackten Haut, die noch nicht einmal angeritzt wird. Ein Phänomen, das es kaum noch einmal gibt in der Welt.
Die gelassene Erklaerung der Balinesen ? Der gute Geist des Barongs in ihnen ist stärker als der böse Geist der „Rangda“, die das angreifende Messer gegen sie selbst leitet. Dann kommt der Priester um die Ecke, bespritzt alle mit Weihwasser, alles steht auf und geht gelassen nach Hause. Ende der Vorstellung.

Dem Phänomen der Trance bin ich, wie Du ja schon weißt, oft auf meiner Reise begegnet, und ich bin zu der Überzeugung gekommen, dass der Mensch Bewusstseinsbereiche erreichen kann, die ihn schier unverwundbar machen oder in denen er in der Lage ist, physikalische Gesetze zu durchbrechen. So ist es also durchaus erklärlich, dass ein Mensch sich ins Feuer stellt, ohne zu verbrennen, oder sich nur die geringste Brandblase zu holen, wie bei dem Feuertanz, über den ich Dir ja neulich berichtete.

Stell Dir vor, was ich noch herausbekommen habe. Es gibt in Bali nur „Wunschkinder“. Das heisst eigentlich halbe Wunschkinder. Die balinesischen Frauen halten seit Generationen ein Geheimnis, ihr Geheimnis. Weiss der Himmel, wie sie es machen, aber sie bekommen nur dann ein Kind, wenn sie es wollen. Da hier meist nur dann geheiratet wird, wenn ein Kind unterwegs ist, bestimmen die Weibsleut also letztlich, wann geheiratet wird, und es ist zum piepsen, die Männer sind einfach machtlos dagegen. Ich habe mit einer amerikanischen Anthropologin darüber gesprochen, die eigens deshalb nach hier kam, um es herauszubekommen. Sie traf nur auf gelassenes schweigendes Lächeln. Diese kleinen Biester ! Ein Übervölkerungsproblem hat es also noch nie hier gegeben. Wenn es dennoch kinderreiche Familien gibt, so nur deshalb, weil Kinder eine Art von Altersversorgung für die Eltern darstellen und ... weil Balinesen alle Kinder ganz abgöttisch lieben.

Und dann die Kinder selber. Ich hatte Dir schon gesagt, glaube ich, dass es hier in Bali kaum eine Kindererziehung von den Eltern aus gibt. Hat das Kind das Säuglingsalter hinter sich, so wird es schon eine unabhängige Persönlichkeit in der festen Gruppe der Kindergemeinschaft. Alles, was als eine Art Erziehungsersatz weiterhin einwirkt, ist die feste, gelebte Moral der Religion und der Sitten der Gesellschaft. Ein wirkliches Kinderparadies, und Du solltest einmal sehen, was das für tolle Kinder sind. Es gibt keine „Schlafengehenszeit“, die Kinder bleiben bei den verschiedenen Arten von Aufführungen immer bis zum Schluss dabei. Die ganze Kinderbande ist bei vollmond wach und spielt Vollmondspiele. Bei Schattenspielen oder Legongtänzen, die oft die ganze Nacht durchdauern, sitzen oder liegen dann ganze Reihen von schlafenden Kindern zwischen und vor den Zuschauern, ein ganz köstlicher Anblick, denn das Spiel geht ohne Unterbrechung weiter, selbst wenn auch alle Zuschauer schlafen würden. An den einzelnen Höhepunkten weckt man sich dann wieder gegenseitig, und Kleinkind und Urgrossvater haben die gleiche, ungetrübte Freude daran.
 
Ist das nicht herrlich? Stelle dagegen die aufgemachte, aufgeputzte Welt des europäischen oder westlichen Kindes mit all dem dazugehörigen Spielklimbim. Weißt Du, es ist schon ein grosses Elend, dass der Einfluss des Westens hier in Asien mit all seinem Druck von Dollars, Autos, Transistoren, James Bonds und weiss der Himmel noch alles so zerstörerisch stark hier eindringt. Was Asien in diesem Jahrhundert alles verliert und scheinbar (wie in China z.B.) bedingungslos über Bord wirft, wird der Menschheit erst viel, viel später bewusst werden. Wir im Westen übernehmen inzwischen ein paar Lapalien wie Yoga und Karate, und selbst die noch meist völlig falsch.

So, ausgekrickselt. Morgen bin ich zu einer Bali Hochzeit eingeladen. Übermorgen setze ich den strengen Blick eines Dozenten auf, und dann schicke ich den Brief weg. Falls mir noch was einfällt, schreibe ich noch was dazu.

Viele Grüsse und Küsse, und bleib doch mal ein bissel erholt,

Dein Hans Dozent

Thursday, September 4, 2008

Hot August '68 **


**Click on title to see my Bali Paintings ,
click slideshow at the bottom of the gallery page
or enlarge each painting with a double click




Denpasar,
Ende Juli 68


Liebe Mutter!

Habe jetzt mal, o Wunder, zwei wunderliebe Briefe von Dir erhalten, einen vom 12. Juni und einen vom 24. Juni was wohl die ungeheuerlichste Leistung der hiesigen Post bedeutete. Je mehr Du schreibst, umso mehr kommt durch die Wirrgitter des hiesigen Korruptionsapparates. Alle Briefe an uns sind von geheimnisvoller Hand schon mindestens einmal geöffnet. Bald drei Monate ohne Nachricht zu sein, ist ein Graus.

Mein letzter Wunderbrief an Dich von hier konnte Dich noch nicht erreichen, wie ich annehme ! In Ubud, wo wir wohnen, ist nämlich ein Fest, was nur alle 30 Jahre stattfinded, und da kommt alles zum Stillstand sogar die Post. Da wimmelt’s und quirlt es nur so herum von wunderschönprächtigen lächelnden Frauen mit Opferschalen, Weihrauchdüfte und Riten mit geweihtem Wasser, zum Umfallen geschmückte Tempel und Strassen. Wenn ich unsere Supervilla mit Zeichengeräten unterm Arm verlasse, fängt’s schon gleich an, da von links hinten süsse Gamelanmusik durch die Bäume jubelnd, während rechts oben Hahnenkämpfe hinter der nächsten Ecke stattfinden, daneben riesige Löwendämonengutheiten tanzen, die Luft so richtig gelb wird, wie meine Finger vom vielen Rauchen; mein linker Fuss stockt am Tempeltor, mein Auge schweift über Silberpalmen durch Reisfelder zum götterbewohnten Vulkanhorizont, man fühlt sich durchzuckt von Himmelsmelodien, von Dämonenstimmen, und überhaupt, ich hab ja schon mal gesagt, dass es nicht zu beschreiben ist, und daher hängt mir inzwischen die Zunge aus dem Hirn.

So kurz zwischen Schattenspielen und Dramen, zwischen Gamelan-Symphonien und Glücklichsein, haben wir gestern unser Heim verlassen, um uns mit stumpfblöden Uniformen wegen Visa-Verlängerungen herumzuschlagen, und daher bin ich jetzt für einen Tag in Denpasar. Ich habe Heimweh nach Ubud und sitze jetzt, sechs Uhr morgens, an einem Bambustisch in einer Supervilla am Meer, wo wir immer unterschlüpfen können und schreibe Dir, bevor wir uns wieder auf den wackeligen Bus schwingen, der die 25 km nach Ubud in zwei-drei Stunden durchrast, weil Zeit hier was ganz anderes geworden ist, als es mir in Deutschland eingepaukt wurde.

Ein Maskentanz, ‚Topeng’, vor ein paar Tagen, bei dem ein Reisbauer zehn verschiedene Rollen tanzt, war das aller aller aller aller wahnsinnigste, beste, ausdrucksvollste, lieblichste, wunderbarste, erregenste, mitreissendste Wunderding, was ich in meinem jungen zarten Leben bisher erlebt habe an künstlerischer Universalvollendung. Mir kamen Traenen vor lauter Wasweissich und für eine Minute rannte ich einfach weg, sonst wäre ich auf der Stelle geplatzt und jetzt im Nirvana.

Die Sonne kommt immer höher aus der riesigen Silberpfütze vor mir, es rauscht wie Wellen, und der Gunung Agung ist auch da, der der grösste und heiligste Vulkan ist auf Bali, direkt am Meer und höher als die Zugspitze; ätsch!

Auf jeden Fall gibt es, wie Du bestimmt merkst, keinen Grund zu irgendwelchen Sorgen. Meine einzige Sorge ist, dass sich meine Locken plötzlich nach links wickeln könnten, vor lauter Seligkeit, und ich bitte Dich, Locken nach links - wie sieht denn so was aus !?

Sei geküsst und mit Blumen beworfen,

Dein Balihans

PS. Gruss von Gerd und Werner, die die besten Freunde sind, die es gibt. Fotos schicke ich nächstes Mal mit! Im Balirock!!!

PSS. Ich lese Deine Briefe nochmal:

Ganz erfreulich, das mit den verdienten Flöhen. Habe Plan, wieder mehr Neues zum Verscherbeln zu schicken. Brauche das Geld, werde Dir demnächst schreiben, wie Du es schicken kannst.

Dass der Walter sich verlobt, ist schöön.

Doch offene Arme Deinerseits für Gemahlin meinerseits, noch lange hinaus schieben, bitte ! Heiraten wäre einfach und schön, ein warmer Frauenpopo ist schon das Schönste, aber es gibt Schöneres. So ist’s manchmal möglich, dass sich hübsche Touristinnen in Kunst und Gunst wie gestern Nacht zum Beispiel (also diese Clara aus der Schweiz...) für Künstler als solche opfern und da sind.

Du hast immer noch viel zu wenig Optimismus mit Australien. Wie kann einer ein armer Einwanderer sein, der von Bali nach Australien kommt? Er ist höchstens ein armer Auswanderer aus Bali : Der Ärmste, der Bedauernswerte!

Falls Du schon in Kur bist kure auf jeden Fall ausgiebig, und such Dir einen netten Schatten.

PSSS. Oh Dear .

Schon war der Brief zu, da hat sich das ereignet, worauf ich wartete. Werner und Gerd haben wohl die einzige Möglichkeit gefunden, sich schnell und sicher Geld zu überweisen. Wir haben Bekanntschaft gemacht mit dem Manager des grössten Hotels hier in Bali, dem Bali Beach Hotel. Es hat also vorzüglich geklappt, und daher machen wir es genau so mit meinem Geld bitte. 670 Märker hat der liebe Walter also gesammelt auf mein Konto. Dann war wohl noch etwas drauf, durch die Frankfurter und vielleicht sonst noch ein paar Märker, so dass ich annehme, dass ungefähr 800 DM, also 200 Dollar auf dem Konto sein könnten.

Von diesem Geld könnte ich mir erst mal ein ruhiges, sehr ruhiges Leben hier machen, bis ich in zwei Monaten dann wohl nach Australien weiter fahre. Den etwas anstrengenden und zeitraubenden Trip durch die Inseln nach Timor könnte ich dann durch eine Schiffsreise oder etwa Flug von hier nach Timor verkürzen, kostet etwa 25 Dollar. Weitere 30 Dollar investiere ich sofort wieder in eine noch bombensicherere Handel : Hervorragend dekorative gemalte balinesische Kalender, Wunderdinger, die ich pro Stück für etwa 30 bis 40 Mark durch Walter verkaufen könnte, so selten und toll sind sie. Das Stück kostet zwei DM, durch Beziehung zum Maler selbst.

Das Geldüberweisen sieht so aus: Der Scheck, den Du schicken lassen musst, soll eine Ueberweisung an das Hotel Bali Beach, Denpasar, Sanur, Bali, Indonesia sein. Ein so genannter Cross-Check, der im Falle des Verlorengehens wieder gesperrt werden kann, im Auftrage von Mr. Hans Höfer als Geldabsender. Nicht an Hans Höfer, sondern an Bali Beach Hotel. Ich muss der Absender sein. Dieser Scheck dauert bis Bali 14 Tage.

Schreibe mir bitte getrennt, an die Post hier, dass Du (oder der Harald) das erledigt haben. Falls es Dir persönlich zu kompliziert erscheint, lies oder schreibe den genauen Wortlaut meiner Gebrauchsanweisung hier bei der Bank vor, die wissen dann sicherlich, wie sie das machen müssen.

Vielen Dank und toi, toi, toi

Optimistenhans



Denpasar, 30. 7. 68


Lieber Rolf!

Ganz schnell und in Eile! Leider habe ich bis jetzt keine Nachricht von Dir, so dass ich annehmen kann, dass entweder Briefe von Dir nicht angekommensind, also irgendwo geklaut worden sind oder dass mein Brief Dich damals gar nicht erst erreicht hat. Im letzteren Fall wäre es mir lieber, denn dann hättest Du meine Bitte um Geld auch nicht erhalten. Bei der zweiten Möglichkeit, dass Du den Brief erhalten hast und, wie ich Dich bat, mir in einer Broschüre eingeheftet 50 Dollar zuschicktest, kann ich hier nachprüfen, wo und wann diese Broschüre verschwunden ist. Schreibe mir, falls Du die Unterlagen noch finden solltest, das genaue Absendedatum und die Nummer des Einschreibebriefes an mich. Die ganze Aktion ging natürlich auf mein eigenes Risiko, und, falls das Geld wirklich verschwunden sein sollte, kann man das auch fast verstehen, denn so ein Postbeamter verdient nur 3 Dollar im Monat!! Schreibe mir also bitte schnell eine kurze Antwort und zwar per Einschreiben: Hans Höfer, Den Pasar, Bali, Indonesia, poste restante. Vielleicht klärt sich alles schnell auf. Schreibe mir auch noch die neuesten Neuigkeiten und welche Briefe Du von mir erhalten hast.

Es wäre schön, von Dir etwas zu hören.
Geldsorgen habe ich keine mehr, alles hat sich wie von selbst gelöst. (Meine Mutter schrieb mir über die Höhe meines Kontos, und ich fragte inzwischen nach diesem Geld. Der Scheck ist im Augenblick unterwegs, hoff’ ich. Bis dahin hilft man mir sehr gut aus hier!) Also auf keinen Fall mehr etwas schicken!!! Hab vielen Dank !

Mir geht es so prima wie noch nie, was ich auch von Dir hoffe.

Hans


Den Pasar, 31. 7. 68

Lieber Rolf!

Vertrickst und vertrackst und verwurschtelt sind gar keine Ausdrücke mehr für die komplizierte Situation, in der ich mich jetzt befinde. Ich versuche, so kurz und schnell wie möglich und über die Zeitspanne einer lahmen Postverbindung hinweg die entstandene Verwirrung aufzuklären. Aber vornweg: Es hat sich vorhin alles geklärt, und ich habe die 50 Dollar, die Du mir also doch so schnell geschickt hast!

Aber lass Dir kurz erklären, wie sich alles, von meiner Seite aus gesehen, zugetragen hat.

Die Knappheit meiner Finanzen, in der ich vor einigen Wochen steckte, liess mich krampfhaft überlegen, wie ich am sichersten eine „Überbrückungssumme"“nach hier bekommen könnte und wen ich ansprechen könnte. Ich wusste, dass bei mir zuhause in nächster Zukunft Geld eintreffen würde, (durch den Verkauf der Tempeldrucke aus Thailand), wusste aber nicht, wie lange es dauern würde. Da meine gute Mutter sich jedoch so leicht falsche Vorstellungen macht und sofort und meist unzutreffend übertrieben völlig schwarzsieht, wollte ich sie eben nicht noch unnötig und zusätzlich mit Geldfragen belasten.

So fiel meine Wahl also auf Dich. Ich fragte andere Europäer, Einheimische, bekam hier Achselzucken, dort alle möglichen unmöglichen Ratschläge, denn auf offiziellem Weg schien Geldtransfer wirklich unmöglich.

Dann hatte ich also die Bekanntschaft des Herrn Ryassa vom hiesigen Postamt gemacht, der sich durch besondere Freundlichkeit von allen anderen Bekannten unterschieden hatte. Er lieh uns sogar sein eigenes Fahrrad, ohne Kommentar und selbstverständlich. Bedenke: Ein Fahrrad ist Kapitalanlage. Es kostet etwa 7000 Rupias, 7 Monatsgehälter eines Postbeamten also ! So vertraute ich ihm meine Situation genauestens an. Aus eigener Erfahrung, so sagte er, wisse er den einzig wirklich sicheren Weg einer schnellen „Überweisung“, und er gab mir den Rat, den ich dann auch schleunigst befolgte. Dann schrieb Dir meinen Bettelbrief mit der Anleiting Geldscheine in einen Reiseprospect enzuheften und per Einschreiben direct an Ryassa zu schicken.

Mein eigenes noch verbliebenes Geld wurde weniger und weniger und war dann auch um den 20. Juli herum wirklich zu Ende. Wöchentlich zweimal hing ich am Postschalter, diskutierte meine Lage mit Ryassa und konnte es nicht fassen, Ryassa wackelte mit mir verzweifelt den Kopf und riet mir wieder, doch weiter zu warten warten, warten, warten.

Doch heute hab ich erfolgreich getrickst !

Bei dem gewohnten Teestündchen mit Ryassa begannen Gerd und ich heute erst ein verstecktes, dann direktes Kreuzverhör, und siehe da: Rayassa gesteht alles.

Ob Lüge, Trick oder Wahrheit: sein Sohn hat Malaria und so weiter und so weiter, Spritzen, die wahnsinnig teuer sind, verzweifelte Tat eines Familienvaters ! Es hat mich fast erschlagen!

Dein Brief kam wie geplant bei ihm an, er zupft selbst die 50 $, und ich steh da als der grösste Trottel der Geschichte und kann ihm nicht mal die Nase verschieben, weil, weil, weil … 17000 Rupias hat er also gefilzt!

Er verspricht 5000 Rupias noch heute und den Rest so schnell wie möglich. Er verspricht und gibt es auch noch schriftlich und … Mir fehlen halt sämtliche Worte, alles das zu erklären, was bei solch einer Sache alles in Betracht zu ziehen wäre.

(Jetzt halte mich für einen Trottel oder nicht: ich hab dem Mann verziehen und noch etwas Geld nachgelassen. Armes Indonesien, und es könnte das reichste Land der Erde sein.)

Sei bitte so gut und mach einen kurzen Besuch bei Henny und versuch zu erklären, wenn Du es kannst. Bestätige ihr bitte den Brief Nr. 8. Ich schreibe erst, und zwar wieder so schnell wie möglich, wenn ich das Geld vom Bali-Beach Hotel in Händen habe. Und bestell ihr bitte auch, dass ich noch völlig normal bin, wenn’s auch weissgott schwer fällt.

Könntest Du bitte in einem unbeobachteten Augenblick meiner Mutter einen Kuss von mir ausrichten?


Dein Hans


Nachwort am anderen Morgen:

Ich schwöre hiermit feierlich, mir nie mehr Geld nachschicken zu lassen !

Falls Du irgendeinen Brief vom Postamt Denpasar erhalten solltest, nicht beantworten, falls das nicht auch schon geschehen ist. Es gibt da noch so einige Polizisten, die sich da auch noch einmischen wollen. Jetzt hat sich aber alles aufgeklärt, und ich will nicht, dass der kleine Drecksack auch noch seine Stelle verliert, oder was weiss der Himmel. Die Polizisten sind auch nicht besser dran mit ihrem Gehalt und sind auch Indonesier.

Ich bin der Gerd und hab mir gerade einen neuen Füllfederhalter gekauft. Da hab ich mir doch gedacht, Gerd, hab ich mir gedacht, den musst Du da gleich ausprobieren, und dann hab ich mir bei mir gedacht, was sollst Du jetzt schreiben mit so einem neuen Füller, da hab ich halt das geschrieben, weil ja alles sowieso in Ordnung ist, und Hans schaut ganz verklärt vor sich hin und nestelt an seinem neuen Bart, denn der juckt noch etwas.
Beim nächstenmal viel mehr von Gerd

Lieber Rolf!!

Komme also tanzend und singend und purzelbaumschlagend die Galatreppe des Bali Hotels herunter und habe die 99 Dollar von Muttern ebenfalls. Sag ihr nochmals vielen Dank für ihre Sorge und Mühe. Na bitte, bin ich nicht ein Glückskind???

Balinuss

PS. Anbei die schriftlichen Geständnisse eines Posträubers. Habe alles Geld von ihm zurück. Na, ja!

Rai Jasa
Denpasar 31. 7. 68


A few weeks ago I got a registered letter from West Germany for me. It contained a magazin and inside of it is $ 50.- for my friend Hans Hoefer.
The address of the letter is Si M. Rai Jasa, but I knew before that this money was for Mr. Hans Hoefer, because I told him myself how to send the money safely from Germany to Bali.
I will bring his money as soon as possible (two weeks) in Indonesian money.
Today I owe you Rp. 5000.-
and the rest as soon as possible - Rp. 12.500 within one week (7 August)

Rai Jasa




Ubud, Bali, 4. 8. 68
Liebe Mutter!


So, Galerie ist fast fertig. Wohnung bereits gemütlichst eingerichtet. Hätte beinahe ein Bild verkauft, doch dann waren 50 Dollar doch zu teuer für die armen Millionäre da. Aber abwarten. Das Leben ist so schön, dass ich es gar nicht zu melden wage. Ständig neue Superdinge um mich herum. Wir haben eine Art Diener angestellt, ein 13jähriger Junge, der Sandi heisst, eine ganz allerherzigste Meckifrisur hat und lustige Augen und auch noch gerne malt. Beiliegend ein neues Bild von ihm. Ich in meinem Zimmer, diesen Brief schreibend. Links meine kleine Kommode, mit Schnitzereien darauf, daneben rechts eine Schattenfigur an der Wand, dann ich im Bambusstuhl. Das Runde in der Ecke ist mein Schirm, ein herrlicher runder Hut, geflochten aus Bambusfasern und 1,50 Meter im Durchmesser. Öllampe und Bambustisch mit Schale drauf, dann mein Bett, das dem Maler Bonnet gehörte. Das Zimmer ist mit geflochtenen Bambusmatten ausgelegt an Boden und Wänden. Was wär ich froh, wenn ich noch so schöne Bilder malen könnt! Der wird auch mal ein grosser Künstler, wie alle Balinesen. Eine schöne Unterschrift hat er ja schon.


Neuer Füller und neuer Schreibblock, nach einigen Platschregentagen scheint wieder die Sonne, es gibt keinerlei Sorgen mehr auf finanziellem Gebiet und auf anderen kaum noch welche. Also Grund genug, wieder mal ein Briefchen von der Sorte „Zwischendurch“ zu schreiben.

Doch zuerst noch mal zu dem ganzen Jedöns der letzten Wochen und den Sorgen, die, hauptsächlich natürlich durch die elende Postverbindung entstanden, Dich sicher wieder einige Nerven gekostet haben.

Durch meinen Brief an Rolf bist Du sicherlich inzwischen auch aufgeklärt, weißt, dass ich nun erst mal Deinen Check ausbezahlt bekam, wie vorberechnet und auch dass die Geldsendung über Rolf ebenfalls wie vorberechnet zwar in Denpasar angekommen war, doch leider erst jetzt und nur teilweise bei mir ankam. Der liebe kleine Schweinehund, der die meiste Verwirrung und Sorge hervorrief, ist einer der vielen armen Teufel in Uniform, der gerade so viel verdient, dass er sich jeden Tag eine Schachtel Zigaretten leisten kann.

Verständnis für die Situation in Indonesien kann man nur haben, wenn man selber dort lebt und die Verhältnisse etwas näher durchschaut. Neben dem Gehalt, das jeder Staatsbeamte bezieht, muss er Geschäfte und Spekulationen machen, um sich und seine Familie ernähren zu können, denn im Verhältnis zum Verdienst ist es doch sauteuer. So gibt es hier viel Korruption und jeder Lohnempfaenger ist darin verwickelt, ja muss darin verwickelt sein, sonst ginge er zugrunde.

50 Dollar sind genau 17 Monatsgehälter, stell Dir das bitte genau vor, da konnte er so einfach nicht widerstehen, obwohl er genau wusste, dass ich sehr darauf wartete und alles anstellen würde, um es zu bekommen. Jetzt könnte ich ihm natürlich seine Postlerkarriere versauen. Er versprach mir, das Geld so schnell wie möglich wieder zurückzubezahlen, mal sehen, was daraus wird.

Warum ich Rolf um Geld gebeten habe? Mein eigenes Geld ging erst Mitte Juli zu Ende, und ich hatte mir bis jetzt erst 40 Märker von Gerd geliehen, also war keinerlei Not, aber Du hättest mir das nicht so recht geglaubt und Dir Sorgen gemacht, was ich nicht wollte. Das Geld, das ich jetzt habe, reicht vollkommen, ich bin, verglichen mit indonesischen Verhältnissen, sogar ein recht wohlhabender Gesell. Und Du wirst sehen, es reicht noch weiter.

Jetzt will ich aber erst auf Deinen letzten Brief Nr. 8 vom 22. Juli eingehen. Du hast leichte Angst, keinen normalen Sohn mehr zu haben? Die Angst war auch berechtigt, wenn ich an all das Zeug denke, was ich Dir so geschrieben habe in meinem albernen Geburtstagsurlaubslebensfreudestil. Hoffentlich habe ich Dir da nicht zuviel zugemutet. Daher ist dieser Brief jetzt mal einigermassen normal, von Bali spinn ich Dir dann wieder das nächste Mal etwas vor. Es ist eben hier alles zu unwahrscheinlich. Ein kleiner Geist zum Beispiel wohnt in einem kleinen Bambustisch hier auf dem Balkon, der klopft und wippt und sogar fliegen kann. Also das ist eine einfache Geschichte, die man bei uns in Europa auch kennt und nicht kennt, die „Tischrücken“ heisst. Ne ganz tolle Sache, wenn auch unerklärlich, wie so vieles auf der Welt. (Glaub jetzt bloss nicht wieder, ich spinn, sonst werde ich Dir noch ganz andere Sachen erzählen, die ich erlebt habe hier in Indonesien und auf meiner Reise, die glaubst Du da nun erst recht nicht. Tischrücken ist ein Kinderspiel.

Dass Harald im Augenblick so ackert, ist ja recht schön. Hoffentlich weiss er genau, warum und hat die Soldatenzeit endlich vergessen. Ich hoffe, dass es zu einem ausgedehnten Briefwechsel kommt zwischen uns, denn es interessiert mich so sehr, was er denkt, macht und fühlt. Vielleicht (lach’ nicht!!) komme ich auch noch einmal in die Lage, ihn bei seinem Studium zu unterstützen. 4 Jahre wohl, ist ja ein ganz schönes Stück Zeit. Dass Helga hilft, ist ja verdammt grosse Klasse, und ich bekomme ein noch schlechteres Gewissen.

So, demnächst bekommst Du wieder einen schönen verrückten Brief, dann glaubst Du wieder ich sei nicht mehr ganz normal, aber dann ganz sicher.

Sei ruhig und gesund und froh und vielmals umarmt und gestreichelt und geküsst von Deinem

hubeljubelkreuzfidellebenswahnergriffenen Trümmerkreuzgrafikmaler und weltlebensegokonzentrierten Lustwandler auf Längen- und Breitengraden und

unnormalen Hans

Weiteres vom Postraub :

Denpasar 6 August 1968
To Mr. Hans Hoefer, Ubud

Dear Sir,

Today I give you the rest of your money Rp. 12.500 as I promised you within seven days.
Hope you will forgive me and may God will bless stay in Bali.
Thank you very much for your help to save my child,

Your friend
Rai Jasa




Ubud, 19. 8. 1968 !

Liebe Mutter!

Als datums- und zeitloser Mensch bin ich wieder das Opfer Balis geworden. Wir wollten nur „eben mal“ nach Ost-Bali, um uns dort einen Tag ein Festival anzuschauen. Dort angekommen, stellten wir fest, dass das nicht möglich ist, an einem Tag; wir Europäer wieder. Durch eine defekte Brücke wurden wir erst einmal auf dem Hinweg bereits um einen Tag in unserer albernen Zeitrechnung zurückgeworfen, aber dann ging es erst recht los in dem Dorf in den Bergen, am Fuss des grossen Vulkans Gunung Agung.

Stell Dir vor, vier Tage und Nächte wurde dort durchgetanzt und gefestet, alles anders als hier in Ubud und neu, da Ost-Bali noch eine viel ursprünglichere Kultur besitzt als die übrige Insel. Musik auf Urzeitinstrumenten, jeder Balinese in prächtigen uralten handgewebten Gewändern, nackte Oberkörper, braune herrliche Frauen mit fantastischem Kopfschmuck aus Blumen und Goldblättern, einfach ein irrsinnig aufregendes Schauspiel mit tranceähnlichen Stadien des Tanzes.

Wie gesagt und noch einmal bekräftigt: 4 Tage lang haben diese Menschen nicht geschlafen und getanzt mit einer unbegreiflichen Energie und mit Kräften, die kurz vor dem Zusammenbrechen immer wieder neu weckten und aufstachelten. Dass Kleinkinder von 5 Jahren an bis zu alten Priesterinnen von unschätzbarem Mumienalter vier Tage lang nicht schlafen, das kann sich bei uns keiner vorstellen, geschweige denn mitmachen.

Also vier Tage blieben wir dort, schliefen auf Bambusmatten unter einem Bambusdach, das heisst, schliefen zwischendurch, denn wir sind nun mal nicht von unheimlichen Kräften beseelt. Da wurde also getanzt und geopfert, Schweine, Büffel, Hühner, Enten, Gänse und wieder Schweine und Vögel und alles eben. Gerüste, wohl 20 Meter hoch, aus massivem Holz und wahnsinnig schwer wurden von Hunderten tanzend geschleift und getragen. Unvorstellbar! Dazu wurden sie umkämpft, halb Spiel, halb Ernst, wühlende Menschenleiber und ein Handgemenge, bei dem es nur wie durch ein Wunder keine Verletzten gegeben hat.

Wir waren wieder die einzigen Weissen dort. Es ist zum Heulen, dass nicht jeder von uns dreien eine riesige Filmkamera dabei hatte, so was hat die Welt einfach nie gesehen ! Und dieses Fest wiederholt sich nur alle 15 Jahre, vorbei, vergessen also, was Neues wird vorbereitet, ständig Neues. Zum wahnsinnig werden.

Von den kleinen Dingen, die sich täglich so dazwischen schieben, ganz zu schweigen. Da haben wir zum Beispiel herausgefunden, dass in einigen kleinen Dörfern am Meer es solch verrückte Menschen gibt, die ihren Zuchttauben kleine Flöten in verschiedener, fein abgestimmter Tonhöhe umbinden.

Diese Tauben fliegen dann zu Fünfzigergruppen durch die abendlichen Lüfte, kreisen über dem Dorf teils hoch, teils tiefer, haben selbst grösste Freude an der Sache, machen Sturzflüge und fliegen verschieden schnell mit oder gegen den Wind. Den Rest kannst Du Dir ja etwa selbst ausmalen. Ich entging knapp einem Schlaganfall, als ich diese Musik vom Himmel hörte. Und die Balinesen lachen mich voll an und sagen, man brauchte sich doch wirklich nicht zu wundern, dass kleine Bambusflöten und Glöckchen im Wind Töne machen. Also bitte.

Doch weiter im Text. Vom Dorf also herunter, da erwischt es den Werner jämmerlich. War’s die Aufregung oder irgendetwas im Essen oder die viele Sonne und der wenige Schlaf ? (Wir mussten ja auch die traditionelle Tracht tragen, mit nacktem Oberkörper und ohne Kopfbedeckung in der Tropensonne herumackern.) Auf jeden Fall kamen wir wieder einen Tag lang nicht weiter, bis Werner sich ausgekotzt, geschüttelfrostet und gesundgeschlafen hatte. Jetzt tuts er wieder!

Dann war der Fluss noch angeschwollen und ein Bus wurde verpasst, aber was soll ich noch erzählen, das Postamt ist in Denpasar und bleibt halt doch dort, unverrückbar.

So geht’s, und Du und Helga habt Geburtstag. Verzeih also bitte dem balinesischen Volk und mir zwischendrin, dass dieser Brief nicht zur rechten Zeit bei Euch eintrifft. Sei getröstet bei dem Gedanken, dass ich von hier aus die herzlichsten Gedankenblitze verjage zu Euch und mir wünsche, dass Ihr Beiden gesund und munter seid und bleibt.

Mein Brief, mein roter, war inhaltlich so reich ? Gestatte, dass ich schmunzle, es war garnichts !

Ah, das habe ich mir gedacht, dass Du Dir doch wieder was rausgeguckt hast aus meinem letzen Foto im Sarongtuch. Ich bin kerngesund, fettgesund, prallgesund, wahnsinnsgesund, gesundgesund, sundgesund, gegesund, undgesund, wundgesund, buntgesund, hundgesund, schuntgesund, und, kundgebund, rundgelund, wundgehund, und.
Finanzsorgen habe ich keine mehr, meinekehr, nimmermehr, trümmerkehr, wimmernimmermehr! –

Inzwischen habe ich gerade einen so herrlichen Brief von Heri bekommen, was ein Pfundsknochen, der ! Schreib mir doch bitte mehr über die Beiden und ihre junge Ehe.

Hoffentlich erreicht Dich dieser Brief nicht zuhause, sondern endlich in Deinem Kurort. Den Check von Otto, der aus Bangkok zurückgekommen ist, bitte einzulösen und das Geld dem Harald geben. Er soll dafür keine Bücher kaufen, sondern bei Heckmann Pöttschespartien gewinnen.

Unser Haus ist immer noch schön, aber leider, leider stellt sich immer deutlicher heraus, dass es zu feucht ist und Leinwände und Bilder anfangen, Pilze und kleine farbenfressende weisse Ameisen ohne Kunstverstand zu beherbergen. Wir haben was in Aussicht, das alles übertrifft und Dir und allen, die davon hören werden, falls es klappt, die Blässe des Neides in die Adern jagt. Ich schreib aber nichts davon, bevor es geklappt hat. –

Harald ist also wieder dran mit dieser Tosca. Weißt Du eigentlich, woher genau aus Indonesien ihre Familie stammt? Vielleicht kann ich irgendwo Grüsse an Familien ausrichten. Man weiss ja nie, wie der Zufall rennt. Frag doch mal Harald, er weiss das doch ganz gewiss. Hoffentlich schreibt der Typ mir auch noch mal, wenn er schon immer die Adressen schreibt, kann er ja auch was dazuschreiben, wenigstens mal was von

dieser

Länge!

So, das war wieder mal so ein richtig hingeschmatzter Brief. Nochmal und noch heftiger: Alles, alles Liebe und Gute für Dein und Helgas neues Lebensjahr.

Sei brav und gräm Dich nicht über Deinen

Landstreicher



Expressbrief
Ubud, 29. 8. 68


Meine liebe Mutter,

gestern war für mich ein Tag mit grosser Überraschung, als Gerd von Den¬pasar gleich mit 4 Briefen für mich zurück kam. Dein Brief Nr. 10 dann brachte mir die Botschaft, dass es jetzt doch mit Deiner Kur geklappt hat und Du heute Deinen ersten Tag bei hoffentlich schönem Wetter in Bad Hermannsborn verbringst. Hoffentlich kann ich Dir helfen, etwas mehr Abstand zu allem zu gewinnen, denn Abstand scheint mir für eine richtige Beurteilung und vor allem für eine wirkliche Erholung das Allernotwendigste zu sein.

Ich sitze in einem unserer gemütlichen Bambussessel, durch zwei Kissen regelrecht unanständig gemütlich gemacht, auf unserem kleinen Hof, halbnackt wie immer, nur mit gelb-orangefarbigem Batiksarong bekleidet, vor mir ein Zeichenbrett mit Schreibblock auf den Knien, um mich herum Hühner, die die feuchte, warme Erde nach Käfer und Wurmsgedöns bear¬beiten. Ein junges balinesisches Borstenschwein ist mit einem Strick aus alten Lappen an einem kleinen strohgedeckten Reisspeicher festgebunden, döst hinter mir im braunen Dreck und grunzt mir aus seinem Traum seine Gedanken über die Schönheit des Lebens zu, und ich gebe ihm einfach Recht, lasse meine menschlich unzulänglichen Gegenargumente sein, des lieben Friedens willen.

Ein paar kleine Mädchen spielen im Haustempel, spinksen manchmal zwischen ihren lang und zerzaust herunterhängen¬den schwarzen Haarsträhnen zu uns herüber, zu Werner und Gerd, die auf der Veranda sitzen und malen und zu mir Schreiberling. Obwohl die farben¬frohe Musik von Blüten und Farnen, der Wind in den silbergrünen Palmen, das Gezwitscher der Vögel, das ferne Hundegebell und Kikeriki der Kampfhähne des umliegenden Kampongs, kurz die ganze Geräuschkulisse eines sonnigen Balitages mir schon ganz in Fleisch und Blut übergegangen ist, will ich sie Dir und mir bewusster machen, sie mit nach Bad Hermannshausen verluft¬postieren, zu Deiner Erholung. Sicher treffen sie Dich nicht ganz unvorbe¬reitet, denn aus Heris Brief erfahre ich, dass Du Vicki Baums Roman be¬kommen hast. Sie lebte nur etwa einen Kilometer von mir hier weg, eben¬falls in Ubud, im Hause Tjampuan des deutschen Malers Walter Spies, den sie im Vorwort liebevoll Dr. Fabius nennt, auf seine Bitte hin, denn er war die un¬ge¬heuerlichste und bescheidenste Persönlichkeit, die Bali je gesehen hat. Hoffentlich kannst Du Dir das Buch über sein Leben besorgen. Ich gebe Dir noch einmal am Schluss des Briefes den genauen Titel. (Es besteht fast aus¬schliesslich aus Briefen an seine Mutter !) -–

Nun, liebes Mutterle, ich will einmal versuchen, mich so stark wie möglich auf Dich zu konzentrieren, vor allem auf das, was Dir in den letzten Mona¬ten soviel unausgesprochenen Kummer bereitete und vielleicht und leider noch immer bereitet. Ich muss mich dabei, ebenfalls leider, leider, viel zu viel auf mein Einfühlungsvermögen verlassen, also bleibt ein Irrtum von meiner Seite nicht ausgeschlossen, denn in allen Deinen Briefen an mich sprichst Du Dich nicht richtig aus, das meiste, was Dich wirklich tief beschäftigt, bleibt angedeutet, bleibt zwischen den Zeilen. Und gerade diese Dinge sind so wichtig zu sagen, auszusprechen und zu benennen. Erst und nur da¬durch können wir uns wirklich verstehen und uns gegenseitig helfen. Ich suche nach dem Grund dafür, warum das nicht oder kaum geschieht.

Hier will ich erst einmal bei mir nachforschen und einige Gründe dafür in meinen Briefen suchen. Und siehe da, hier wird mir schon ein Fehler meinerseits ganz klar. Meine letzten Briefe an Dich waren zu voll von Schwer- oder Unverständlichem. Schau, in der Stimmung, in der ich sie schrieb, versuchte ich schon, durch den Stil die Vielfalt und Eindringlich¬keit der Eindrücke zu vermitteln. Worte, abgerissen und ohne ersichtlichen Zu¬sammenhang, Gedankenbilder, fliehend und kaum erfasst, wie die Eindrü¬cke, wie das Gesehene auf mich einstürmend und vorbeiziehend, auf mich, der durch so viel Erlebtes der vorhergehenden Zeit bereits zum Bersten gefüllt, ja teilweise in seiner Persönlichkeit total aus dem Gleichgewicht geworfen war. Denn genau das geschah und geschieht durch mein Reisen, und gerade das will ich ja.

Jedoch kann ich für mich sagen, dass es bewusst geschieht und mit beobachtendem Abstand meines tiefsten „Ich“. Und genau diesen Abstand, und das war mein Fehler, kann der Leser dieses Briefes, hauptsächlich also Du, kaum aufbringen, ohne sich in die Art und Weise, wie ich sehe und erlebe, hineinzufühlen.

Was also geschah bei Dir und scheinbar auch bei einigen, die den oder die Briefe noch gelesen haben? Die Verwirrung, die ich ja beabsichtigte, war da, aber der Abstand fehlte! Und das, ich Esel, wurde mir erst wieder durch An¬deutungen Deiner entstandenen Sorgen aus Deinen Briefen klar. Also ich lese von Angst, keinen ganz normalen Sohn mehr zu haben; ungeschriebe¬ner Angst, dass ich mich hier auf Bali in Rauschgiftdämpfen auflöse und, und das scheint mir wirklich tragische Ausmasse anzunehmen, Deine tiefe Furcht, dass ich mich Dir entfremde und mich nie mehr bei Dir und mit Dir „wohlfühlen“ würde. Was hab ich Dummkopf da wieder angerichtet, und wie leicht wären solche Sorgen zu zerstreuen, wenn Du sie doch aussprechen würdest in Deinen Briefen an mich. Was soll die¬se Angstbarriere, dass wir uns entfremdet hätten, müssen wir nicht versuchen, uns ständig verständlich zu machen?

Briefe können so viel sein, viel mehr als das Gespräch vielleicht. So muss ich Dich wirklich herzlich bitten, viel mehr Vertrauen in mich zu setzen, dann können solche Sorgen wie rauschgiftsüchtig bis zu „nicht mehr ganz normal“ gar nicht aufkommen. Doch hier sind wir eben an einer Grenze angelangt, die zwischen jedem Ich und Du besteht: „Ich“ kann nur bitten und mich durch verschiedene Ausdrucksmöglichkeiten verständlich machen, sei es sprechen, handeln, schweigen oder nicht handeln und vieles mehr, alles andere geschieht in der Person des „Du“. Ich bitte also um Dein Vertrauen in mich.

Da ist also Deine zaghafte An¬frage in Deinem vorletzten Brief. Du schreibst: „…Ob Du mir wohl sehr fremd geworden bist in Deiner jetzigen Umgebung ? Meine Angst ist sowieso immer, dass Du Dich hier bei mir zuhause nie mehr wohl fühlen wirst. Das wäre arg für mich! Ich würde alles tun für Dich, dass Du Dich bei mir doch „wie zuhause“ wieder fühlen sollst….“

Weißt Du, solche Sätze sind arg schwere Brocken für mich, an denen ich lang herumkauen muss. So viel spricht daraus, und es gäbe so viel darauf zu antworten. Dir fremd geworden? Dadurch, dass ich in einer anderen Um¬gebung lebe, werden mir Dinge klar, bekommen andere, tiefere Bedeutung; Freundschaft, Liebe, Zuhause, “Wohlfühlen“, Glück, Mutter, Familie, alles wird klarer und von viel mehr und weiteren Gesichtspunkten betrachtet, empfunden und gefühlt. Hat sich Dein Gefühl zu mir durch die Entfernung etwa verfremdet, oder ist es nicht so, dass es sich im Grunde intensi¬viert hat? Schau, genauso ist es doch bei mir. Beziehungen, die nicht durch den Kleinkram und Ärger des Alltages, durch den ein jeder ständig hindurch muss und der so gewaltig belastet, getrübt und verwaschen werden, sind viel klarer.

Dann möchte ich Dir noch ein¬mal erklären, dass der Grund dafür, dass ich mich in Deutschland nicht glücklich gefühlt habe, auf keinen Fall irgendetwas mit Dir oder mit meinem Zuhause zu tun hatte. Der Grund dafür lag ganz alleine bei mir und in mir. Ich wollte und konnte mich einfach nicht damit abfinden, in dem Augenblick, in dem ich mehr meiner selbst bewusst werde, in die Mühle des Lebens in Deutschland zu geraten. Bis jetzt ist es auch niemandem gelungen, mich davon zu überzeugen, dass es richtiger gewesen wäre, wenn ich zuhause geblieben wäre.

Jeder Brief, den ich hier erhalte, berichtet von dem, dem ich gottseidank entflohen bin. Ganz furchtbar ist das, wenn man das hier mit einigem Abstand liest. Kummer und Elend, kaum irgendetwas Positives, kaum etwas, was mich nur im geringsten daran rei¬zen könnte und mir sagen, Hans, was Du hier machst und treibst, ist falsch, Du gehörst nach Deutschland und nicht nach Bali, nach Indien, Nepal und weiss der Kuckuck wohin noch. Glaube mir, der einzige Grund, dass ich überhaupt daran denke, wieder nach Deutschland zurückzukehren, bist Du, ist Harald und Helga und Heri. Sonst bleibt niemand und gar nichts.

Wie anders ist doch mein Leben. Wie glücklich und bewusst führe ich es, seit es mein eigenes wurde. Wieder will ich Dir klarmachen, dass es keine Reise ist, sondern Leben und das nur in der Interpretation, die allein für mich gültig ist. Es ist fast ein Glaubensbekenntnis meiner „Religion“. Dazu kommt, dass ich noch keineswegs damit fertig bin, und ich will es auch gar nicht. Alles bleibt offen und in Bewegung. Und letztlich geht es mir nur darum, selber daran zu arbeiten, meine eigene Persönlichkeit zu finden. Wie lange ich hier bleibe, wie lange ich in Australien bleibe, was ich mache, was ich male, ob ich male, wann ich zu Dir zurückkomme und wie lange ich dort bleibe, ob ich heirate oder nicht, alles hängt nur davon ab.

Weiter wird ein Grund Deiner Sorge um mich, die Sorge um meine Zukunft sein. Schade, dass Du das Buch über Walter Spies noch nicht hast. Es heisst dort in einem Brief an seine Mutter: „Eines steht fest, nie in meinem Leben werde ich jemals wieder denken, was soll aus mir werden. Es wird aus mir werden, was aus mir wird, und sonst gar nichts“. Du glaubst gar nicht, wie sehr mir das selbst aus dem Herzen spricht. Was soll mir dieser Gedanke nützen, wo doch nur das für mich wirklich zählt – und für jeden zählen sollte, was gerade ist.

Natürlich bestehen Pläne auch für die Zukunft, sie sind aber niemals Sor¬gen, die den Augenblick belasten könnten oder sollten. Du kommst nicht darum herum, und Du musst Dich wirklich darum bemühen, diese meine Haltung zu akzeptieren und, noch besser, auch zu verstehen. Hier stehe ich, ich kann nicht anders, Gott helfe mir, oder so ähnlich, Amen.

Sätze wie „haste was, biste was“ sind zum kotzen für mich, sie enthalten alles das, was ich hasse. „Biste was, haste was“ ist auch noch schlimm, geht aber gerade noch. Untersuche bitte für Dich genau, wie viel von alledem in der „Sorge um die Zukunft“ enthalten ist.

Vielleicht verstehst Du schon etwas besser, warum ich noch länger hier auf Bali bleiben werde. Schau, nach all dem Reisen, Sehen, Erleben, Leben, brauche ich einen Punkt, wieder zu mir selber zu kommen. Schluss¬strich und zusammenzählen! Alles scheint sich für mich geändert zu haben. Meine Beziehung zu Vielem ist anders. Der gleiche Hans, der von Krefeld ab¬fuhr, ist auf der Strecke geblieben, derselbe Hans jedoch fährt weiter.

Erfreuliches zwischendurch. Stell Dir vor, da lebte vor einigen Jahren hier in Bali ein Maler, Christiano, Italiener, der eine jener schwarzen Inselschönheiten heiratete. Sie war Tänzerin und 16 Jahre alt, ein rechtes Wunder, wie man mir hier erzählt. Nun, die junge Dame woll¬te einmal Europa sehen, und der gute Mann fährt zurück nach Italien mit ihr und schlägt mit ihr natürlich wie mit einer Bombe in Rom ein. Siehe da, der kleinen Bombe gefällt’s dort so gut, dass sie gar nicht mehr in sein Paradies zurück will. Ist doch ein Witz, aber wahr. So ist der gute Mann mit seinem Wunderstückchen Bali nun in Italien, verdient gut und hat in nächster Zeit nicht vor, nach Bali zurück zu kommen.

Was übrig bleibt, ist ein Haus am Meer ... Also Haus am Meer. Das liest sich so leicht, ist aber nicht. Stell Dir alle Träume der geplagten Mitteleuropäer zusammen vor, und Du hast viel¬leicht eine kleine Vorstellung von dem, was da prangt an einer Wahnsinns¬bucht, an eine Wahnsinnsfelswand geschmiegt, unter und zwischen Wahn¬sinns¬pal¬men, zwanzig Meter neben der Wahnsinnsbrandung und 30 Meter neben Wahnsinns-Fischerauslegebooten und 50 Meter neben altem, verwit¬ter¬tem Tempel, 200 Meter neben kleinem, wahnsinnsbilligen Pensions¬ein¬heimi¬schenlokal, schnauf, dahinter Blick auf Reisfelder und Wälder und einen Wahnsinnsvulkan von 3000 Metern und und und mir hängt schon wieder die Zunge heraus. Das Haus in bestem Zustand, italienischer Bau¬stil, mit Treppchen, Gärtchen, Rundbogen hier, Verzierung da, und es ist nicht zu fassen, wie es wieder dazu kam, auf jeden Fall: Wir ziehen ein, benutzen es ohne Mietkosten als zweites Haus. Unser! Unser! Ohne Haken und Ösen. Wir haben nur da zu sein und es zu bewohnen, ordentliche Menschen, die wir da sind! Das heisst, in einer Woche müssen Gerd und Werner für fast 4 Wochen nach Djakarta zurück, um dort einige Visumsfragen zu klären, mit anderen Worten, ich besitze dann gleich in zwei Prachthäuser, zwischen denen ich pendeln kann. Eine Vorstellung zum Umfallen. Bücher, malen, ich mit mir in Gesellschaft auf Bali! Was sagste dazu ? Was für ein Leben, was für ein Leben ! Man sage mir doch bitte noch mal warum ich hier weg soll ?

Zwischenbemerkung: Gestern morgen habe ich den Brief angefangen, habe langsam und langsam geschrieben, bin zwischendurch mal essen gegangen oder habe paradiesische Früchte verschlungen. Dann am Abend war ich eingeladen zu einer ganz seltenen Sache: ein Trance-Tanz zweier sieben¬jährigen Mädchen auf den Schultern zweier Männer, was ganz Seltenes und einfach Unbeschreibliches. Wir sind dort mit den Fahrrädern hingefahren, und auf dem Rückweg platzte der spröde Gummi vorne. Also fast 15 Kilo¬meter Fahrrad schieben in Mondnacht auf Bali, auch unbeschreiblich.

Heute also etwas länger geschlafen und weitergeschrieben, während der Gerd eben vom Markt eine junge Frau mitgeschleift hat, die ihm, fünf Meter von mir weg, gerade Modell sitzt, auch unbeschreiblich; und ich schreibe jetzt trotzdem weiter, obwohl mir mein Bart juckt, auch unbeschreiblich.

Beschrieben habe ich auch noch nicht einen anderen Trance-Tanz, bei dem ein Priester tanzend einen hohen Berg von brennenden Kokosnussschalen mit nackten Beinen und Füssen bis auf die letzte flackernde Glut niederge¬treten hat, ohne sich auch nur eine Brandblase zuzuziehen. Frag’ doch mal den Harald gelegentlich, wie viel Grad etwa ein 1,50 Meter hoher Gluthaufen entwickelt und was demjenigen passiert, der da neihupft und alles runter¬trampelt, bis er dunkel ist und aus. Ich erklär ihm dann den anderen Teil ! Das war etwa vor einer Woche. Ich getrau mich schon gar nicht mehr hinaus aus dem Haus, sonst platz ich doch noch mal !

Doch wieder nach Bad Hermannshausen, von dem ich noch nicht mal weiss, wo es genau liegt. Sicherlich ist es bergig, mit viel Wald herum und angeleg¬tem Kurgarten. Hoffentlich hast Du schönes Wetter, wenn’s jedoch nicht so ist, so sei dem Wetter nicht bös, es kann nichts dafür, dass es so ist, wie es gerade ist und kümmert sich daher nie darum, ob wir uns darüber freuen oder ärgern. Du machst Spaziergänge, liest im Buch über Bali und hast viel¬leicht noch einige alte Briefe von mir dabei, die Du immer wieder liest, um zu vergleichen.

Ich würde ja so gerne mal meine alten Reisebriefe des letz¬ten Jahres wieder lesen. Sammelst Du all das Zeug? Meine Sammlung hier ist recht stattlich, kein Brief fehlt, von Abreise bis hier; was für eine Lektüre. Die letzten sind von Dir, von Rolf, der augenblicklich grossen Kummer hat, sich aber leider nicht darüber äussert, dann vom Bruder, endlich und dafür ganz dufte, der Bengel, und ein Brief von Heri, in dem er sich mit alldem be¬fasst, was ihn augenblicklich tief bewegt. Ich habe also einiges zu beantwor¬ten.

Ich hoffe nur, dass Dich die augenblicklichen Unruhen in Europa nicht so sehr in Anspruch nehmen, wie uns hier. Bei uns Dreien herrschte tiefe Enttäuschung über die Nachrichten von dort, es wurde bis in die Nacht hinein diskutiert und wir versuchten, soviel wie möglich aus den Nachrich¬ten herauszuhören. In welch einer irrsinnigen Welt leben wir doch! Hier wie dort wollen Völker in ihrer Art von Freiheit leben, hier wie dort greift die Ge¬walt der Macht ein, wenn auch unter verschieden scheinenden Vorzeichen.

Stell Dir vor, gar kein so grosser Unterschied. Vietnam ist von Deutschland fast soweit entfernt, wie Bali von der Tschechoslowakei! Die Eindringlich¬keit eines Geschehens scheint durch Entfernung und Zeit abzunehmen. Wir ha¬ben es nicht nur mit der Unzulänglichkeit der Menschen, sondern ebenso stark mit der Unzulänglichkeit des Menschen zu tun. –

Es hängt mir übri¬gens inzwischen zum Halse heraus, „etwas zu demonstrieren“. Was dieses „etwas“ ist, kann nur jeder selbst in sich finden. Irgendwie treffen sich doch alle Sorgen und Probleme in einem Punkt, die grossen wie die kleinen.

Nun, mir bleibt nur zu hoffen, dass Du die Dinge so aufnimmst, wie ich sie wirklich meine. Sie sollen ein wenig mehr Klarheit bringen und Dich etwas anregen, Dich in po¬sitiver Weise mit ihnen auseinanderzusetzen. Schon habe ich wieder Angst, dass sich irgendwelche Missverständnisse einschleichen könnten, verscheu¬che sie aber gleich wieder.

Lasse es Dir recht gut gehen, esse nicht, nein, fresse!! Suche auch ab und zu den „Schatten“, zuviel Sonne kann auch schaden! Bleib mir von Beat-Loka¬len weg, und geh dafür mal in ‚nen schönen Film. Zerstreu Dich viel, vergiss aber bitte nicht, Dich auch wieder einzusammeln. Mache Spaziergänge, auch alleine. Mache nur einen winzigen Teil von dem, was ich hier so auf Bali trei¬be. Hab vor lauter Faulheit überhaupt keine Zeit. Mach das alles, und noch mehr! Zeichne und schicke mir einen schönen Baum. Zeichne ihn mit der linken Hand, damit er nicht gleich so gut wird. Mache Purzelbäume die Wie¬sen rauf und die Wälder hinunter, beginne zu jodeln, Fussball spielen, Schlittschuh laufen, werfe mit Sand nach dem Mann von nebenan, erzähle unanständige Witze, gehe ins Warenhaus, klauen, mach alles und erfinde Neues, das Dich etwas von dem himmelherrgottsakramentverdammtver¬fluch¬ten elenden Alltag abbringt, damit Du etwas Abstand gewinnst und Dich freuen kannst über pickende Hühner im Dreck, über Ameisenstrassen und Autobahnen, über Haralds neues Auto und seinen Erfolg im Studium, dieser Intelligenzknochen! Lach mal über seine dicke Unterlippe und über meine schmale, und trag ein kleines Notizblöckchen bei Dir, schreibe allen Kummer und alle Sorgen in Stichworten drauf und schick sie mir, damit ich sie alle hier im Haustempel verbrenne und Dir dann zurückschreibe, was die Geister und Götter und Dämonen darüber gelästert haben. Mach die Augen zu, und mach allabendlich einen kurzen Besuch von 10 Minuten bei Dir selbst. Schluss mit den Ratschlägen, Du bist dran!

Da, das Blatt ist auch zu Ende.

Kuss, Kuss, Balinuss!

Bücher gibt’s: Das verlorene Paradies, Liebe, Tod oder so auf Bali, von Vicki Baum, die ein paar Meter neben mir gewohnt hat, vor ein paar hundert Jahren. Insel der Götter, von Coverubias oder so, von einem mexikanischen Maler, und vor allem das „Tanz und Drama auf Bali“ von Walter Spiess und einem anderen. Aber das beste Buch, das es gibt, ist:

Walter Spies, Maler und Musiker auf Bali (1895-1942) L.J.C. Boucher/Den Haag
(Eine Autobiographie in Briefen mit ergänzenden Erinnerungen, gesammelt und herausgegeben von Hans Rhodius),

ein Buch über sein Leben, das alles und viel viel mehr sagt, als ich überhaupt jemals schreiben oder sagen kann. Täglich gehe ich an seinem Haus vorbei, wo nichts mehr ist, als ein paar geschnitzte Fenster, aber voll von Atmosphäre die glitzert in der Luft.